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Krieg und Normalität 10 Reportagen aus Lwiw, Ukraine

Heiraten am Fließband

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Vor dem Fronteinsatz wird schnell noch geheiratet. Das Standesamt in Lwiw vergibt Termine im 20-Minuten-Takt. Warum es so schnell gehen muss, erzählen Yuriy und Marina.

Von
Anna Scheld &
Tim Winter

Fotos
Andreas Gregor

Eigentlich hatten Yuriy und Marina sich ihre Hochzeit ganz anders ausgemalt. Ein großes Fest sollte es werden, mit hunderten Gästen. Doch jetzt stehen sie hier, im größten Standesamt von Lwiw. Nicht einmal ihre Eltern wissen Bescheid. Nur Marinas Schwester. Die steht am Rand und filmt mit ihrem Handy. Ein Streichquartett fiedelt die letzten Takte von Mendelssohns Hochzeitsmarsch in den Saal. Dann Stille.

Yuriy und Marina sind heute das erste Paar, es ist kurz nach halb zehn. Sie trägt ukrainische Tracht: In ihrem Wickelrock, einer Plahta, steckt eine handbestickte Bluse. Er trägt Camouflage, Kampfstiefel und ein breites Grinsen. Das Paar hat die Arme ineinander verschlungen und steht auf einem länglichen Tuch, genannt Rusznyk. Es soll ihre Liebe auf ewig besiegeln.

Foto: privat

Dann geht alles ganz schnell: Kerzen, Tränen und Sekt. 20 Minuten bekommt jedes Paar im großen Saal, um den Bund der Ehe einzugehen. Viel Zeit haben Yuriy und Marina ohnehin nicht. Er ist Soldat auf Heimaturlaub. In ein paar Tagen muss er wieder zurück – an die Front von Charkiw. Dort schießt er russische Panzer ab.

Foto: privat

Gestern noch an der Front, heute schon im Standesamt. Auf den drohenden Tod antworten viele junge Soldaten mit dem Versprechen ewiger Treue. In der Ukraine finden Fließband-Hochzeiten statt, Paare nutzen die kurzen Urlaubstage von der Armee, um sich trauen zu lassen. Über 50 Hochzeiten finden allein an diesem Wochenende im Standesamt statt, in dem auch Yuriy und Marina sich das Ja-Wort geben.

Es sind nicht immer Soldaten – aber oft. Manche tragen wie Yuriy Camouflage. Mit einer Urkunde in der Hand laufen sie mit ihren Frauen aus der Hintertür. Ohne Gäste oder irgendjemand, der auf sie wartet.

Nachdem Russland am 24. Februar in die Ukraine einfiel, wurde einen halben Monat später ein Gesetz verabschiedet, dass das „Heiraten an einem Tag” möglich macht. Es gilt für Paare, bei denen mindestens einer vom Tod bedroht wird – so wie es bei Soldaten der Fall ist. Sie kommen mit ihren Partnerinnen ohne Voranmeldung ins Standesamt. Reinspazieren, heiraten, wieder gehen. Eine Walk-in-Hochzeit.

Es ist sogar möglich, von der Front aus zu heiraten, ohne selbst vor Ort zu sein. Dann steht die Braut allein vor dem Standesbeamten. Der Bräutigam schaltet sich per Videoanruf dazu. Jahrelange Liebe, heruntergebrochen auf einen bürokratischen Akt, ausgelöst durch Todesdrohung.

Yuriy und Marina lernten sich bei der Arbeit kennen, beim Fernsehsender Kanal24. Sie ist 29, er 34 Jahre alt. Vor vier Jahren sollten sie zusammen einen Beitrag drehen. Über ein Volksfest. Heute fasst Marina sich auf die Brust und deutet mit der Hand einen Herzschlag an: „Das war Liebe auf den ersten Blick. Als würden wir uns schon ewig kennen.”

Sie gingen Pilze sammeln und angeln, wandern und reisen. Bis schließlich der Krieg ausbrach und Yuriy sich nach zwei Tagen zum Militärdienst meldete.

Marina erinnert sich an den Moment, als er mit gepacktem Rucksack in der Wohnung stand. Sie weinte nicht, bat ihn nicht, zu bleiben.

Er sagte damals zu ihr: „So wie du verhalten sich die Ehefrauen von Kriegern.” „Ich wusste immer, dass Yuriy der geborene Kämpfer ist. In Zukunft werde ich mit einem Helden leben“, sagt Marina heute.

Yuriy war dabei, als im September weite Teile der Region Charkiw befreiten wurden. Mit dem ukrainischen Lenkwaffensystem STUGNA-P schießt er, meist in einem Team zu fünft, Panzer ab. Navigieren, schießen, nachladen. Das Gerät wiegt 80 Kilogramm. Manchmal müssen sie es zwei Kilometer lang schleppen, bis sie eine geeignete Stelle finden. Morgens und abends schreibt Yuriy seiner Marina. Wenn er es mal nicht schafft, schaut sie nach, wann er zuletzt online war.

„Jeden Tag heiraten hier Leute in Uniform. Wir stellen keine Fragen.“

„Jeden Tag heiraten hier Leute in Uniform. Wir stellen keine Fragen.“

Zenovij Zenovijovych

Zenovij Zenovijovych, 59, Leiter des Standesamtes sitzt im ersten Stock – die Marmortreppe rechts hinauf, vorbei an Menschentrauben in feinen Anzügen und wallenden Kleidern, die im Foyer stehen und warten. Dort oben, hinter seinem Schreibtisch, sitzt er aufrecht wie ein Tänzer, die Beine überschlagen. An der Decke bröckelt Putz, an der Wand hinter ihm zupft ein Kosake in Ölfarben an seiner Bandura. Zenovijovych liebt seinen Beruf. Genauer genommen liebt er die Liebe.

In seinem Büro verbringe er deswegen nicht viel Zeit mit Papierkram. Viel lieber laufe er durchs Haus und betrachtet die glücklichen Gesichter, die aus den Sälen kommen. Das ist sein Lebenselixier. Mit 19 kam er ins Standesamt, um sein Jurastudium zu finanzieren. Das ist jetzt 40 Jahre her, und er ist immer noch hier.

Das Standesamt in Lwiw ist eine ehrwürdige Villa am Rande eines Parks. Hier heiraten Arme und Reiche, Berühmte und Freaks. „Bei uns sind sie alle gleich“, sagt Zenovijovych. Vor etwa einem Jahr gab Oksana Lyniv – sie dirigierte als erste Frau die Bayreuther Festspiele – hier ihrem Mann das Ja-Wort. Einmal kam ein Paar in Dinosaurier-Kostümen. Zenovijovych amüsierte sich, machte ein Bild von ihnen, und natürlich wurden auch sie getraut.

Die eine große, entscheidende Frage stellt Yuriy seiner Marina in einer Live-Schalte von der Front. Vor Millionen Zuschauern. Am 24. August, dem Tag der Unabhängigkeit der Ukraine. Marina sitzt mit zwei Kolleginnen an einem Tisch im Fernsehstudio von Kanal24 und moderiert die Sendung. „Und jetzt die Nachrichten von der Front“, sagt eine ihrer Kolleginnen in die Kamera. Plötzlich erscheint Yuriy auf dem Bildschirm. Er sitzt in einem abgedunkelten Fahrzeug, irgendwo an der Front von Charkiw.

„Hallo ins Studio“, sagt er und grinst. Auf YouTube hat das Video über eine Million Aufrufe. „Heute hat Amor einen Pfeil auf mich geschossen, direkt in mein Herz.” – Marinas Lippen zittern – „Mein Sonnenschein, ich verzichte auf meine Freiheit als Kosake, um von dir abhängig zu sein.” – Marinas Augen werden glasig – Yuriy spricht weiter: „Ich habe eine Überraschung für dich.“ Eine Kollegin schiebt Marina eine Schatulle mit einem Ring entgegen. Marina schluchzt, hält sich die Hände vor den Mund. Und sagt eine ganze Weile lang nichts.

„Ja oder nein?”

„Tausendmal ja!“

Genau einen Monat nach dem Antrag, am 24. September, steht Yuriy neben Marina draußen vor dem Standesamt. Aus der Tasche seiner Flecktarnhose holt er eine Pfeife und steckt sie sich an. Er heirate in Uniform, sagt er, weil er möchte, dass seine Kinder einmal die Bilder ansehen und wissen: Papa war Teil der Geschichte dieses Landes.

An der Front spielen Yuriy und seine Kameraden Fußball, um sich die Zeit zu vertreiben, in der nichts geschieht. An diesem Septembernachmittag, dem Tag seiner Hochzeit, geht er mit seiner frischgebackenen Ehefrau zum Spiel des Clubs Karpaty Lwiw. Heute trägt die ganze Mannschaft auf ihren Trikots dieselbe Nummer: 80. Als Zeichen der Solidarität mit der 80. Brigade, die vor ein paar Tagen Charkiw befreit hat und der auch Yuriy angehört.

Die Angst vor dem Tod lasse viele nun früher heiraten, sagt Zenovijovych. Paare, die sich unsicher waren oder sich Zeit lassen wollten. Wenn ein Soldat stirbt, hat seine Ehefrau das Recht auf finanzielle Beihilfe vom Staat, umgerechnet knapp 17 000 Euro.

Manchmal humpeln Soldaten auf Krücken in sein Standesamt. Auch da stellt er keine Fragen. Neulich sei in Lwiw Luftalarm gewesen, während sie gerade eine Trauung durchführten. Zenovijovych setzt sich in die Hocke, zeigt ein Video. Gäste, Brautpaar und Streicher stehen vor dem Standesamt auf einer Terrasse. Sirenen kreischen durch die Luft. Die Zeremonie geht weiter. Zenovijovych schaut vom Display auf und sagt: „Das Paar wollte keine Zeit verlieren.“

Seit dem Krieg haben sich die Hochzeiten im Haus verändert. Früher gab es oft ein Feuerwerk. Das geht heute nicht mehr. Eine Standesbeamtin sagt, sie spüre eine andere Stimmung im Saal. Eine gewisse Schwere.

„Es fließen mehr Tränen. Nicht unbedingt nur aus Liebe”

Sondern auch, weil Eltern, Geschwister oder Freunde nicht anwesend sein können.

Die Tage nach der Hochzeit sind die Tage vor dem Abschied. Yuriy und Marina gehen in eine Ausstellung der Malerin Marija Prymatschenko, spazieren vorbei an ihren Lieblingsorten in Lwiw, die voll sind von Erinnerungen an bessere Zeiten. Sie versuchen, nicht an das zu denken, was kommt.

Dann muss Yuriy los. Marina packt ihm seinen Rucksack wie die Mutter dem Kind, sagt sie. Mit Schokolade, Gurken im Glas und getrocknetem Fleisch. Und mit einem kleinen Stoffschaf. Es soll Yuriy ein Heimatgefühl in der Ferne geben. Er hat den Auftrag, es heil wieder nach Hause zu bringen.

Am Tag der Abreise fährt Marina Yuriy zur Sammelstelle an der Kaserne. Regen rinnt an der Autoscheibe herunter. Der Abschied ist kurz und schmerzvoll. Ein Kuss, eine Umarmung, die Marina noch fester vorkommt als sonst. Am meisten, sagt sie, liebe sie seinen Duft.

Lange galt Lwiw innerhalb der Ukraine als sicherer Hafen. Doch drei Wochen, nachdem Yuriy sich von seiner Marina verabschiedete, trafen die Stadt Raketen.

Der Strom fiel aus, die Heizung auch. Das Mobilfunknetz brach kurzzeitig zusammen. Marina war an diesem Tag zu Hause, doch Yuriy konnte sie nicht erreichen. Panisch rief er bei seiner Mutter in Lwiw an, bei Marinas Arbeit, bei Freunden und Bekannten. Und als er sie endlich erreichte, sagte er: „Jetzt verstehe ich, wie du dich fühlst.“

Sie wissen nicht, wann sie sich wiedersehen werden. „Vielleicht in einem halben Jahr, wenn Yuriy Fronturlaub hat”, sagt Marina, „oder eben, wenn der Sieg da ist.“

Bald wollen sie noch einmal kirchlich heiraten, alle Kameraden von der Front einladen und ein großes Fest feiern. Und sie wollen ein altes Haus renovieren. Es steht in der Nähe eines Wasserfalls in den Karpaten, Marinas Heimat. Vielleicht werden sie dort in Frieden leben, bald, wenn alles vorbei ist.

Anna Scheld &<br>Tim Winter Anna Scheld &<br>Tim Winter

Anna Scheld &
Tim Winter

anna.scheld@posteo.de
tim_winter1@yahoo.com