Mein Taxifahrer brettert über das Kopfsteinpflaster der Innenstadt, immer weiter auswärts. An uns vorbei ziehen menschengeflutete Bürgersteige und Häuserreihen zwischen Wiener Jugendstil und Sowjet-Brutalismus. Wie Karies nagt die Zeit an den Fassaden. Denkmale und Kirchen sind verhüllt, um zu schützen, was geht, sollten Russlands Raketen um sie herum einschlagen. Sieben Monate sind vergangen, seit Vladimir Putins Streitkräfte die Ukraine überfiel.
Gleich werde ich auf einen illegalen Rave gehen.
Neben Kiew ist Lwiw die zweite Hauptstadt des Techno in der Ukraine. „Wild, punching music in raw rooms, wie Berlin in den 80s“, beschreibt Olek die ukrainische Techno-Szene. Er ist Musikjournalist und Gründer von Gasoline Radio, das jungen, ukrainischen DJs und Artists eine Plattform bietet.
Obwohl Krieg ist, sind Raves und Konzerte überall in Lwiw geblieben, teilweise die ganze Nacht lang.
Wer aber im wehrfähigen Alter gegen die abendliche Ausgangssperre verstößt und dabei erwischt wird, kann direkt in die Armee eingezogen werden.
Es ist 19 Uhr. Noch vier Stunden zur Ausgangssperre.
Der Taxifahrer hält vor einem großen, eisernen Tor. Ich sehe einen Jeep in Tarnfarben, ich höre Bellen wie von großen Hunde. Kurz kommen mir Zweifel. Auf seiner Homepage hat das Auswärtige Amtes gewarnt, die Ausgangssperren „unbedingt“ einzuhalten.
Inzwischen hat der Vorabendhimmel einen orangen Filter über die Stadt gelegt. Es ist diese Stimmung, in der alles möglich scheint. Ich trete durch das Tor, immer weiter in das verlassen wirkende Industriegebiet hinein.
Drinnen. Im Club 151. Eine Frau führt mich durch die ehemals sowjetische Fabrik, auf der Suche nach Geletron, dem Promoter dieser Nacht. Sie kann kein Englisch, ich kein Ukrainisch. Also gestikulieren wir wild, was aufgrund der Dunkelheit nur so semi funktioniert. Wir laufen über den Floor, wo ein paar Verstreute zu harten Bässen stampfen. Einer hat einen roten Regenschirm dabei. Für morgen ist Regen gemeldet.
Wir treten durch einen Vorhang. Ein blonder Typ mit geschorenen Haaren und grauem V-Neck-Pulli dreht sich von der Bar weg. „Hey, my brother“, sagt Geletron und drückt mir zwei Pappbecher in die Hand. „Cheers“ sagt er, wir prosten uns zu und kippen erst Vodka hinunter, danach Ananas-Saft. Über der Bar hängt eine Leinwand. I’M YOUR FUCKING FUTURE.


Wann und wo Raves stattfinden, wird über Mundpropaganda verbreitet – und über Instagram. Geletron wird heute 28 Jahre alt. Unter seinem Post hat er geschrieben: „Das Geschenk in dieser Situation kann nur eines sein – ein SUV für die 125. Brigade, in der Freunde unserer Szene derzeit erfolgreich die Position an der Front gegen die Schweinehorde halten. Es lebe und leuchte die freie Ukraine!“
Wir setzen uns auf eine alte Couch. Über uns hängt eine Tuba von der Decke, an den Wänden stehen Popart und Bücherregale. Die Bücher, Dekoration. Soviet Shit, sagt Geletron und lacht. Ein Regal hat er mit einer Ukraine-Flagge verhangen.
In den ersten Monaten des Krieges arbeitete Geletron als Fixer für US-amerikanische Journalisten. Als DJ und Promoter sei er vor dem Krieg viel rumgekommen, sagt er. Geletron werde sich immer an die Leichen auf den Straßen von Butscha erinnern. Nur fünf Tage nach dem Massaker sei er dort gewesen. Russische Soldaten nennt er seitdem „Orks“.
„Meine Brüder an der Frontlinie haben mich gebeten, diesen Rave zu organisieren“, sagt er. Sie bräuchten jede Unterstützung, die sie bekommen können. Also begann er Geld für ein Auto zu sammeln. Das hier, das sei „super illegal“, sagt Geletron. „Aber ein Rave geht schneller als ein GoFundMe.“
80 000 Hrywnja , das sind 2200 Euro, hat er schon zusammen, 70 000 braucht er noch. Bei einem Eintritt von 300 UAE müssten also 250 Leute reichen. „Wenn wir das Geld für den SUV zusammen haben, fahre ich ihn eigenhändig an die Front“, sagt Geletron.
Geletron fragt mich, ob ich bis zu seinem Set um 3 Uhr morgens bleiben würde? Ich habe ein wenig Schiss, aber ich nicke.
Langsam füllt sich der Club 151. Es ist 21 Uhr. Drinnen sind es noch zwei Stunden bis zur Ausgangssperre.

Draußen. Einen Tag später. Im Innenhof einer stillgelegten Defibrilatoren-Fabrik pulsiert eine 90s-Snare. Das Ganok, nur ein paar Straßen vom Club 151 entfernt. Aus einem alten Wintergarten ragt ein Mischpult über die Tanzfläche, der DJ hat gerade eine deutsche Version von „Insane in the Brain“ von Cypress Hill aufgelegt.
Wenn der Wind sich dreht,
ändern viele ihre Richtung.
Es ist schon viel zu spät,
eure Zeit zieht vorbei.
Perplex, hier meine Sprache zu hören und überfordert von so viel Metapher setze ich mich zu Kulya. Ein hagerer, weißer Mann mit Snoop Dogg 90s-Drip, schwarze Sonnenbrille, oversized Holzfäller-Hoddie.
Kulya rappt als Tulym Posse. Auf Ukrainisch, schon immer. Er habe zuerst nur französischen Rap gehört, irgendwann dann Wu Tang Clan, Mobb Deep. Seine Beats nennt er „Modern 90s“.

„Ich konnte für zwei Monate nicht mal Musik hören. Es hat einige Zeit gebraucht, bis ich meine Emotionen wieder in den Griff bekommen habe.“
Kulya
Die Kickit-Crew, seine Crew, feiert heute sich selbst. Auch hier werden alle Einnahmen gespendet. 13 Jahre gibt es sie schon, 25 Musiker*innen, Filmemacher*innen, Designer*innen, Sprayer*innen. Und einige der besten BBoys der Welt, sagt Kulya stolz. Gemeinsam tourten sie durch die Ukraine, sie spielten Konzerte, organisierten Battles und Parties. Einige sind sogar Advocates für die Zulu Nation. Das ist eine Musik-, Sozial- und Kunst-Organisation, die der New Yorker DJ Afrika Bambaataa in den 1970ern gründete, um der Gang-Gewalt auf den Straßen etwas entgegenzusetzen. Die Zulu-Nation verbietet Gewalt. Kulya sagt: „Wir sind pure art.“
Dann kam der Krieg.
Kulya bläst purple smoke in den Nachmittag. „Ich weiß, dass ich morgen an der Front sein könnte“, sagt er und drückt den Blunt aus. „Ich kenne zehn Leute, die gestorben sind. Und ich würde trotzdem gehen.“
Während wir sprechen, setzt sich Ksenia zu uns. Sie hat wilde, lange Haare und trägt eine Pilotenbrille mit gelben Gläsern. „Jeder braucht Eskapismus, auch jetzt“, sagt Kulya. Dann räuspert sich Ksenia: may I add something.

„Viele Freunde von mir sind gerade an der Front. Sie sagen mir: ‚Wir kämpfen, damit ihr ein normales Leben habt. Also lebt es. Das bedeutet, dass wir einen guten Job machen.‘ Es kann auch sein, dass ein paar Soldaten heute unter uns sind – auf Urlaub. Die brauchen auch mal Abwechslung.“
Kulya nickt. „Wir wissen, dass der Kontrast groß ist. Es schwierig. Aber wir entertainen die Menschen. „Heute Abend sind wir hier und morgen zurück in der Realität.“
Heute also werden sich deshalb alle in den Armen liegen. Sie werden gemeinsam rappen, die Leute werden unter Decken eingemurmelt zuhören, wenn es Abends kälter wird. Wenige Tage nach diesem Gespräch wird Kulya seinen ersten Song seit Kriegsbeginn herausbringen. „Ash“, wird er heißen. Asche.
Drinnen. Im Club 151 ist es jetzt kurz nach 23 Uhr. Die letzten Raucher kommen durch die Tür. Dann drückt ein schwarz gekleideter Typ die rostige Eisentür ins Schloss. Ab jetzt wird es schwer, hier rein zu kommen – oder raus.
Ich schweife durch den Club. Der Raucherbereich ist voller Graffiti und junger Menschen, kaum jemand der etwa 200 Gäste ist über 30. Neben mir trinken Riri, Dima und Lizzzard Vodka aus der Flasche und spülen es mit Kirschsaft aus dem Tetrapak herunter.
Riris Haare fallen über die zwei Kirschen, die sie sich auf den Oberarm stechen lassen hat. „Keine Ahnung warum, aber ich mag Kirschen“, sagt sie und lacht. Gerade arbeitet sie in der IT-Branche, ihr Traum ist aber, aber als Tätowiererin durch Europa zu reisen. „Jeder hier macht Kunst in irgendeiner Art.“
Sie zeigt auf Dima. Er ist Fotograf und Video-Designer. In Düsseldorf habe er auch schon gearbeitet, sagt er und zeigt mir Videos auf seinem iPhone. Sein Traum ist es, Klamotten zu designen, im Fetisch-Stil. Dann kuschelt sich Dima an seinen Boyfriend. Riri sagt: „Unser Land ist immer noch sehr homophob. Es ist selten, dass man sich zeigen kann.“
Da ist Lizzzard. Er trägt ein geknicktes Nike-Cap und den Merch seines eigenen Labels. Doordom, übersetzt: verrückt. „Because I work in a fucking madhouse.“ Er hat mal UFO 361 gehört. Danach beschloss er, ab jetzt weder auf russisch noch auf englisch zu rappen. „And Yung Hurn. I fucking love Yung Hurn.“ In Erfurt hat er sich einen Audi 1999 A4 Quattro gekauft. Er hebt die Hände und schreit: „Ich bin ein Berliner.“ Dabei verliert er das Gleichgewicht und klatscht von der Couchlehne auf den Boden.
Vor dem Krieg, sagt Riri, seien mindestens doppelt so viele Menschen hier gewesen. Als Frau kann sie nicht zur Strafe eingezogen werden; aber die Bomben und die Zukunft machen ihr Angst. „Jederzeit könnte etwas passieren. You never know.“
Drinnen ist es 1 Uhr. Noch vier Stunden bis zum Ende der Ausgangssperre.
Draußen. Zwei Tage später. Der Night Mayor hat mich entdeckt. Ich sitze an der Außenbar des PeoplePlace, einem der hipsten Bars der Stadt. Sie gehört ihm, dem Nacht-Bürgermeister. Gemütlicher Techno dringt aus dem Innenraum. Zwischen uns ist nur ein kleines, aber menschenbepacktes Patio, doch er braucht zehn Minuten, bis er bei mir ist. Jeder will mit ihm sprechen.
In der Instagram-Bio des PeoplePlace steht: Bar & Bunker.
Der Night Mayor heißt eigentlich Chad und ist in Griechenland geboren, seine Mutter ist Libanesin. Nach Lwiw kam er, weil er sich nur hier leisten konnte, Architektur zu studieren. 2009 war das. Später begann er in Bars zu jobben. Ein Nachtleben gab es damals kaum. „Es war eine old people city“, sagt Chad. „Either classic concerts or ugly clubs with shitty EDM and hokkahs.“ Nachts waren die Gassen dunkel und gefährlich. Türsteher verprügelten die Leute, nur weil sie am falschen Ort rauchten.
Chad wollte die Architektur Lwiws in Musik übersetzen und begann, selbst Parties zu organisieren. Im Staatsmuseum, im Tram-Bahnhof, im Botanischen Garten. Er buchte DJs aus Deutschland, Frankreich, Argentinien und mischte das Line-Up mit ukrainischen Artists. Die Welt kam nach Lwiw und die Lwiw kam in die Welt.
Aus Zufall erfuhr er irgendwann von Mirik Milan, dem ersten Night Mayor in Amsterdam. Chad erzählte in einem Magazin-Interview von der Idee, das Magazin schrieb es auf. Seitdem nennen ihn alle Night Mayor. Jetzt ist er Mitglied einer Chatgruppe, in der sich alle 132 Night Mayors der Welt über neue Ideen austauschen. „Fake it `til you make it“, sagt er, lacht und zündet sich eine Zigarette mit Schokoladen Geschmack an. Eigentlich rauche er nicht, sagt er. Aber seit dem Krieg….
Er versteht die Diskussion über Raves und Parties überhaupt nicht. „Weißt du, was das erste Konzert nach Kriegsbeginn hier war?“, fragt er und sieht mir tief in die Augen. Ich schüttle den Kopf. „Ein Jazz-Festival. Und die selben Leute kritisieren jetzt uns.“
Die letzten sieben Monate hat er seine Bar offen gelassen, seine Mitarbeitenden weiter bezahlt. PeoplePlace wurde zwischenzeitlich zu einer Annahmestelle für Hilfsgüter. Andere Nachtclubbesitzer machten es genauso wie er. Vor wenigen Wochen verlieh ihnen der Bürgermeister einen Preis.

„During wartime, electronic music is close to the people. It is a heartbeat. It is crying without crying.“
Chad, Night Mayor
Drinnen. Ich hole mir in der hinteren Ecke des Club 151 einen schwarzen Tee. Bis fünf Uhr morgens muss ich durchhalten, also noch drei Stunden. Eine Frau mit Gesichtstattoo schöpft den Tee aus einem riesigen Bottich. Sie hat ihn gerade frisch aufgebrüht. Jemand erzählt mir, dass letztens eine Party in einer Nachbarstadt geraided wurde. Die Luft riecht nach Weed. Ich setze mich, ein Typ erzählt mir, wie er 25 000 Kilometer durch Europa getrampt ist.
Ich: „Hast du dich nicht sicher gefühlt?“
Er: „Du kannst dich nie sicher fühlen.“
Ich: „Wo warst du überall?“
Er: „In Deutschland? In Berlin und Hannover.“
Ich: „Warum zur Hölle Hannover?“
Er: „Keine Ahnung. Let it float.“
Wir quatschen noch etwas und stehen dann auf und gehen auf die Tanzfläche. Es ist drei Uhr morgens. Geletron legt jetzt auf.
Es dauert, bis ich mich auf das Tempo seiner Musik hochschrauben kann. Ein Typ in Sturmmaske und mit grünen Laserstrahlen, die aus seinen Handschuhen kommen, schreit: „DAWEIIIII. ELECTROOOOO!“ Lasst uns Elektro machen! Dampf strömt unter dem Pult hervor. Figuren stampfen gedankenverloren im Nebel, frei von Sorgen und Zwängen. Irgendwann bin ich einer von ihnen.
Schneller als gedacht geht die Nacht zu Ende, die Sonne taucht das Industriegebiet in schüchternes Licht.
Ich trete aus dem Club. Zwei Jungs, die anscheinend Wache gestanden haben, schließen das schwere Eisentor auf. Das Taxi wartet schon. Wir fahren durch leere Straßen, zurück in die Stadt. Dabei passieren wir drei Polizeistreifen. Das Kopfsteinpflaster dröhnt monoton unter den Autoreifen.
Was im Krieg wächst, sind die Träume für das danach.
Geletron sagt: „Ich sammle traditionelle Fabeln. Kennst du Pokémon? Nach dem Krieg will ich diese Fabeln herausbringen, wie Pokémon-Karten.“
Olek, der Radio-Gründer sagt: „Durch den Krieg ist die Musik-Szene zusammengerückt. Die Strömungen bleiben nicht mehr unter sich, ein melting pot of all scenes. Du bekommst das Gefühl, dass etwas ganz Neues kommt.“
Der Night Mayor sagt: „Ich werde nach dem Krieg die Lagerhallen mieten, in denen gerade die Hilfsgüter lagern. Sie werden leer sein, weil wir gewonnen haben. Danach feiern wir darin unsere Freiheit.“