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Krieg und Normalität 10 Reportagen aus Lwiw, Ukraine

Kämpfen und Spielen

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Trotz Krieg wollen viele Fußball-Fans in Lwiw auf ihren geliebten Sport nicht verzichten. Beim Spiel zwischen Lwiw und Charkiv saßen die Zuschauer die längste Zeit im Luftschutzbunker.

Von
Kim Lucia Ruoff

Fotos
Andreas Gregor

Zwei Minuten noch. Auf dem Feld hat Yuriy Klymchuk, Rückennummer 7, gelbes Trikot, im Stadion Ukrajina gerade den Ball zum Ausgleich versenkt, 1:1. Der Spieler von Rukh Lwiw küsst seinen rechten Zeigefinger. Anstoß. Ein paar Verlegenheitspässe von Metalist Charkiw, kurz vor Ende der ersten Halbzeit möchte niemand noch etwas riskieren. Da ertönt eine Sirene. Dann die Stimme des Stadionsprechers: Luftalarm.

Die Sonne scheint. Die Spieler in den gelben und dunkelblauen Trikots, die Schiedsrichter, der Trainerstab, die Mannschaftsärzte und Physiotherapeuten laufen vom Spielfeld in den Luftschutzbunker.

Es ist der 24. August, ukrainischer Unabhängigkeitstag. Die Ränge der Gegentribüne zeichnen mit ihren blau-gelben Plastiksitzen die ukrainische Flagge. An guten Tagen sitzen oder stehen, fiebern oder fluchen hier bis zu 28 000 Menschen. In besseren Zeiten feiern an diesem Tag Millionen auf ukrainischen Straßen den Nationalfeiertag. In diesem Jahr sind alle Großveranstaltungen abgesagt. Russische Raketen könnten durch den sommerblauen Himmel jagen.

Für das Team von Rukh Lwiw und Metalist Charkiw ist es der erste Spieltag der neuen Saison. Diese Meisterschaft ist ein Wunsch, vielleicht ein Auftrag von oberster Stelle. Präsident Selenskyj sprach sich dafür aus, die Funktionäre der Clubs stimmten zu. Sechzehn Mannschaften spielen in diesem Jahr um den Titel und für die Ukraine. Sie sollen versuchen, was kaum möglich ist, wenn Luftalarm und Truppenbewegungen, Opferzahlen und Stromausfälle die Nachrichten dominieren. Die Quadratur des Kreises: Für etwas Normalität sorgen, inmitten des Krieges.

Die neue Normalität startet dann erst einmal recht spektakulär. Drei Mal dröhnen die Sirenen an diesem Nachmittag.

Drei Mal versammeln sich die Teams von Rukh Lwiw und Metalist Charkiw im Luftschutzbunker

Insgesamt 145 Minuten sitzen sie dort. Auf dem Platz kämpft sich Charkiw zurück, oben Luftabwehrraketen gegen Beschuss. Am Ende gewinnen sie, 1:2, kein Bombeneinschlag. Nach 4 Stunden und 27 Minuten pfeift der Schiedsrichter das Spiel ab.

Ein Trainingsgelände in einem der Außenbezirk von Lwiw. Langsam füllt sich der Parkplatz. Auch der Mannschaftsbus, mit dem Aufdruck der Stadtsilhouette und den Umrissen eines blauen Löwen ist schon da. Hier trainiert der Liga-Konkurrent FC Lwiw. Die Mannschaft ist schlecht in die Saison gestartet, zwei Niederlagen. ‚Vor zwei Tagen dann der Befreiungsschlag, ein Sieg in Uschgorod. Im Mannschaftsbus zurück sang der ganze Bus ukrainische Volkslieder.

Cheftrainer Oleg Dulub zieht den Zipper seiner blauen Trainingsjacke bis unter das Kinn. Die Sonne scheint blass, der Herbst kündigt sich mit ersten kühlen Tagen an. Ein Betreuer verteilt am Spielfeldrand Früchtetee in kleinen Pappbechern an die Spieler. Auf dem Platz wird auf kleine Tore gespielt, vier Teams, zwei Felder. Den Tag zuvor hatten sie frei, an diesem Morgen starten sie wieder mit Regenerationstraining, Krafttraining, ein bisschen kicken, Sauna.

Der Kader sei natürlich seit Kriegsbeginn ein anderer, sagt Dulub. Die internationalen Spieler aus Kroatien und Frankreich, Rumänien, Luxemburg und Uganda sind weg. „Es ist nicht euer Krieg“, haben man ihnen gesagt und sie ziehen lassen, ohne nennenswerte Ablösesummen. Ihre Verträge wären im kommenden Jahr ohnehin ausgelaufen, dadurch sei es verkraftbar gewesen. FC Lwiw setzt auf die Jugend, Jungs, die im eigenen Trainingszentrum herangezogen werden. Über sportliche Ziele möchte hier niemand sprechen. Sie wollen spielen, auch damit die Löhne gezahlt werden können, vom Busfahrer bis zum Platzwart.

Für Vereine wie Schachtar Donezk oder Dynamo Kiew wiegen die Abgänge schwerer. In ihren Reihen spielen viele ausländische Spieler. 2015 etwa wechselte Douglas Costa von Donezk zu den Bayern – für 35 Millionen Euro. Es gehört zum Geschäftsmodell des Clubs, Spieler sichten und werben, dann aufbauen und weiterverkaufen. Als Russland die Ukraine Anfang des Jahres überfiel, entschied die FIFA kurz darauf: Ausländische Spieler dürfen ihre Verträge auflösen und die Ukraine oder Russland ablösefrei verlassen. Daraufhin verklagte Schachtar den Weltfussballverband vor dem Internationalen Sportgerichtshof. Der verursachte Schaden aus ihrer Sicht: 50 Millionen US-Dollar.

Die ukrainischen Spieler von FC Lwiw sind geblieben. Am Morgen des russischen Überfalls traf sich das ganze Team, 10 Uhr, ein Konferenzsaal, betretene Stille. Das Spiel, zu dem sie am nächsten Tag aufbrechen wollten, wurde abgesagt, das Trainingszentrum in kurzer Zeit zur Unterkunft für Geflüchtete. Unter der Dachschräge, wo die Spieler ansonsten entspannen oder Interviews geben, lebten zwischenzeitlich knapp 70 Menschen. Ein bunter Klamottenhaufen, eine Matratze, ist alles was davon zurückgeblieben ist. Viele sind weitergezogen, gen Westen, nach Polen oder Deutschland. Einige haben in Lwiw eine eigene Wohnung gefunden.

Die Stadt ist reich an Fussballclubs und Fans, drei Mannschaften spielen mit dem Stadtnamen auf den Trikots in den höchsten drei Ligen, drei große Stadien gibt es. Als Lwiw noch Lemberg hieß und zu Österreich gehörte, fand 1894 hier das erste öffentliche Fussballmatch des Landes statt.

Auf einem Bildschirm, der über der Theke in der Altstadtkneipe Cantona hängt, laufen die Spieler in ukrainische Fahnen gehüllt auf das Spielfeld. Hinter der holzvertäfelten Theke zapft Andy Bier, ohne hinzusehen. Er verrenkt den Hals, um den Spielstart nicht zu verpassen. Ihm gehört die Fussballkneipe am Rande der historischen Altstadt von Lwiw. Der vordere Teil ist ganz seinem Helden gewidmet. Éric Cantona in Siegesposen, vier Mal englischer Meister mit Manchester United. Bilder davon schmücken die roten Wände. Ein Freund hat ihm ein Autogramm mitgebracht, „For Andy“ ist darauf gekritzelt. Es hängt gerahmt über der Theke. Es sei wie in jeder guten Kirche. Die Gläubigen versuchen ein kleines Stück von ihren Heiligen zu bekommen, sagt er lachend. Seine Kneipe ist vollgepflastert damit.

Hinten vor der Bar ist alles grün, die Tapete, die Trikots, die Fanschals und Lederbezüge der Eckbänke. Andys Verein heißt Karpaty Lwiw, der dritte große Fussballclub der Stadt, und wohl der mit der glühendsten Anhängerschaft, obwohl der Verein durch finanzielle Probleme inzwischen in die 3.Liga abgesackt ist. Seinen Job als Journalist bei einem TV-Sender hat Andy gekündigt und alles in seine Kneipe gesteckt. Die neue Saison sei wie ein Unterschlupf für die Gedanken, sagt er. „Für ein paar Dutzend Minuten kann ich woanders sein, beim Spiel, dann zählt nur das.“

Ein Samstagnachmittag, inzwischen sind die Plätze in seiner Kneipe fast alle besetzt. Hinten im grünen Bereich läuft das Spiel von Karpaty Lwiw, vorne im roten Bereich kämpft die Ukraine gegen Armenien in der Nations League.

An einem der Tische im Cantona sitzt Michael, 35, ein Bier vor sich, die Seiten seines Kopfes kurzrasiert. Um ihn acht Freunde, alle Karpaty Fans. Seit Anfang März ist Michael Soldat. Es ist das erste Mal, dass er zurück in der Stadt ist. Die vier Tage Heimaturlaub hat er mit seinem achtjährigen Sohn verbracht.

Vom Pub wird er direkt den Zug nehmen, zurück in den Nordosten der Ukraine, ins Kampfgebiet zwischen Tschernihiw und Sumy.

„Endlich über etwas anderes sprechen“, sagt er, während Karpaty auf dem Bildschirm chancenlos verliert.

Unter dem Ärmel seines schwarzen Shirts schaut eine Plastikfolie heraus. Michael hat sich am Tag zuvor eine Kampfszene auf den Oberarm tätowieren lassen. Er habe die meisten Spiele der Saison bislang verfolgt. Auch im Schützengraben hält das Handynetz. Die Spiele hat er auf seinem Smartphone geschaut. Es sei wichtig, dass wieder gekickt werde, zur Ablenkung, aber auch als Zeichen. „Wir kämpfen, damit das wieder möglich ist“, sagt Michael – ein normales Leben. Er ist den Spielern dankbar, nicht jeder könne zu den Waffen greifen.

Von den Freunden, die früher jeden Freitag ins Cantona kamen, Freunde von Andy, sind alle an die Front. Er hat währenddessen gesammelt, schusssichere Westen, Helme, Geld. Das Cantona wurde zum Sammellager, zur Essensausgabe für Geflüchtete.

Von seinen Freunden ist noch niemand zurück.

Die meisten sind immer noch an der Front, zwei liegen im Militärkrankenhaus, nur ein paar Kilometer entfernt. Vier sind ums Leben gekommen.

In dieser Saison gibt es kaum Heimspiele. Viele der Stadien im Land liegen zu nah an den Frontverläufen. Die Tribüne des Bachmut Stadions wurde von einer Rakete getroffen, das Wolodymyr-Bojko-Stadion in Mariupol ist ebenfalls zerbombt. Spiele finden ausschließlich im Westen statt, bei Kiew, Lwiw und in den Karpaten. Zuschauer sind nicht erlaubt, maximal 280 Menschen dürfen sich im Stadion aufhalten. Der nächste Schutzbunker ist nie weiter als 500 Meter entfernt.

Dort wo sonst die Prominenz sitzt, die Clubpräsidenten und Mäzene, steht jetzt Stockbett an Stockbett. In der VIP-Lounge der Arena Lwiw leben Geflüchtete aus dem ganzen Land. Das Stadion liegt am südlichen Rand von Lwiw. Wer aus dem Stadtzentrum dorthin will, passiert eine Panzersperre, weiße Sandsäcke. In einem verglasten Kasten, hoch über dem Spielfeld, schlafen sie, über 120 Menschen in den Konferenzsälen und Ehrenlogen. Im Saal für die Pressekonferenzen gibt es warme Suppe. In den Katakomben knüpfen Frauen Stoffreste zu Tarnnetzen für die Front.

André trägt Kaputzenshirt und den langen Bart in zwei Zöpfen, ein blaues und ein gelbes Gummi an deren Enden. Früher schnitt er die Highlights der Spiele zusammen, Torjubel und vergebene Chancen, Schwalben und Fouls. Inzwischen koordiniert er die größte Anlaufstelle für Geflüchtete in Lwiw. Er arbeitet für Schachtar Donezk. Die meisten der Mitarbeiter leben und arbeiten inzwischen hier. Der Verein floh schon 2014 aus dem Donbas. Zwei Bombenexplosionen hatten das Stadion damals stark beschädigt. Die Arena Lwiw wurde kurzzeitig zum Refugium für den Club. Inzwischen trainiert die Mannschaft in Warschau. Dort empfangen sie internationale Gegner. Für die Meisterschaftsspiele passieren sie die Grenze zurück in die Westukraine, Woche für Woche.

André ist seit zwanzig Jahren Fan, exzessiv, wie er sagt. Fussball das sei für ihn in normalen Zeiten hochemotional, jetzt fühle er dabei wenig. Die Spiele schaut er nicht, er checkt nur schnell die Ergebnisse auf seinem Handy. Sein Tag beginnt morgens um sechs, oft arbeite er bis 23 Uhr. Geflüchtete, die in Lwiw ankommen, können sich in der Arena Lwiw registrieren, Kleidung bekommen, einen Schlafplatz. Die meisten leben hier knapp einen Monat. Gleichzeitig wird hier gespielt.

Die Mannschaften fahren an den hinteren Eingang, tauchen in die Katakomben ein. Die Geflüchteten müssen das Stadion dann für drei Stunden verlassen, so sehen es die Regeln vor. Keine Mannschaft soll einen Vorteil haben, zu viele Menschen machen das Stadion interessant für Angriffe.

Es sei wichtig, dass wieder gespielt werde. Eine ganze Generation an Fussball-Nachwuchs sei sonst verloren, sagt André, die Trainingsrückstände zu groß. Vor allem für die Nationalspieler seien die Rundenspiele wichtig. Ihr Erfolg, ihre Haltung, das würde gerade besonders viel Aufmerksamkeit bekommen.

Andere Nationalteams reisen nicht in das Kriegsgebiet. Internationale Spiele finden in Warschau statt. André hofft, dass sie bald auch wieder in der Arena Lwiw spielen können. Schachtar in der Champions League, die Nationalmannschaft vielleicht schon die Qualifikation für die nächsten EM. Das wäre kommendes Jahr.

Kim Lucia Ruoff

Kim Lucia Ruoff

kimluciaruoff@posteo.de