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Krieg und Normalität 10 Reportagen aus Lwiw, Ukraine

Reiten als Therapie

I

Im Krieg verlor Nazar beide Beine. Mithilfe von Pferden soll er wieder Lebensmut schöpfen und seine Muskulatur stärken.

Von
Kristina Ratsch &
Niklas Bessenbach

Fotos
Andreas Gregor

Vor dem Eingang des Reha-Zentrums sitzen Männer und rauchen schweigend in den bewölkten Septemberhimmel. Über ihnen flattert die ukrainische Flagge. Einer lehnt gegen die Holzbank, ihm fehlt ein Arm. Davor ein anderer im Rollstuhl, sein linkes Bein ist amputiert. Die graue Jogginghose hat er bis zu den Oberschenkeln gefaltet.

Das Reha-Zentrum Halychyna ist eine halbe Stunde außerhalb von Lwiw. Fünf Stockwerke hoch, Platz für 130 Patienten. Es ist heillos überfüllt, Patienten werden deshalb noch vor dem Ende ihrer Therapie entlassen.

Nazar Viktorovsky ist 35 Jahre alt, drahtig, früher joggte er zehn Kilometer in 38 Minuten. Seine beiden Beine hat er im Krieg verloren, vor sechs Wochen wurden sie amputiert. Er lag 19 Stunden unter Trümmern, bis das Blut in seinen Beinen nicht mehr zirkulierte und sie abstarben. Nun wartet er auf seine Prothesen.

Nazar Viktorovsky

Er sitzt er in einem Therapie-Zimmer in seinem Rollstuhl und erzählt seine Geschichte. Dann klopft es an der Tür.

Die Eltern, Onkel und Tante sind spontan gekommen. Es ist nicht ihr erster Besuch, trotzdem kann der Vater seine Tränen nicht zurückhalten. Die Mutter schweigt und nimmt ihn lange in den Arm.

Sie schimpfte mit ihm, als er ihr nur einen Tag nach der Invasion sagte, dass er an der Front kämpfen wolle. Wer sich denn um seine Frau und das Kind kümmern werde?, fragte sie.

Vier Tage nach Kriegsausbruch meldete er sich freiwillig, noch bevor der Einberufungsbescheid in seinem Briefkasten lag.

Acht Wochen vorher an der Front. Nazar Viktorovskyi ist 100 Kilometer nördlich von Donezk stationiert, in der kleinen Stadt Tschassiw Jar. Seine Freunde versuchen ihn zu überreden, er solle mit ihnen im See baden. Es ist ein heißer Tag im Juli. Die Hitze lässt nach, der Krieg ruht für einen Moment. Aber Nazar Viktorovskyi möchte nicht mit, er möchte alleine sein. 21.30 Uhr, er steht gerade unter der Dusche, ein lauter Knall. Eine Sekunde später fliegt alles in die Luft, irgendwo im Keller, begraben unter den Trümmern, bleibt er bewusstlos liegen. Eine Rakete ist in die Kaserne eingeschlagen. Plötzlich, ohne Warnung. In Tschassiw Jar wird seit Monaten gekämpft, die Offiziere haben den Luftalarm der Kaserne deaktiviert. Er würde sonst ohne Unterlass schrillen.

In Tschassiw Jar bewachten Nazar Viktorovskyi und seine Kameraden den Himmel. Erspähten sie einen Kampfjet, vielleicht der Suchoi Su-34, ein zweisitziger Kampfbomber, vielleicht ein Kampfhubschrauber, mussten sie den Typ identifizieren und den Vorgesetzten melden.

Als Nazar Viktorovskyi Stunden nach dem Raketeneinschlag zu sich kommt, hat er Schmerzen. Es ist stockfinster. Der feine Staub unter den Trümmern der Kaserne macht das Atmen schwer. Er hört Bagger, die Geröll beiseite schieben. Entfernt Stimmen.

Nazar Viktorovskyi spürt seine Beine nicht mehr, er will sie mit den Fingern abtasten, doch überall sind nur Steine und Blut.

In jener Nacht betet Nazar Viktorovskyi laut den Rosenkranz. Eine riesige Steinplatte droht auf ihn zu rutschen. So riesig, dass sie ihn töten würde.

Er betet, dass Gott ihm seine Sünden vergibt. Er betet, dass Gott seine Frau und seine vierjährige Tochter beschützt, wenn er tot ist. Er betet für Putin, dass er seinen Irrweg erkennt und endlich zur Vernunft kommt.

Am Nachmittag, 19 Stunden nach dem Raketeneinschlag, zieht ein Feuerwehrmann den schwachen, fast leblosen Körper aus dem Trümmerberg heraus. Ein TV-Sender ist live dabei, das Video kann man auf Youtube sehen. Nazar Viktorovskyis Haut ist kreideweiß vom Schutt. Er reißt die Augen kurz auf, dann wickeln sie ihn in eine Decke und legen ihn auf eine Trage. Er überlebt, als einer der wenigen: 67 Kameraden sterben.

Die Ukraine ist auf so viele Kriegsversehrte nicht vorbereitet. Die Invasion belastet vor allem auch das Gesundheitssystem. US-Generalstabschef Mark A. Milley geht davon aus, dass bis Mitte November etwa 100.000 ukrainische Soldaten getötet oder verwundet wurden. Es fehlen Betten in Krankenhäusern, Fachkräfte für Amputationen, Geld und vor allem Prothesen.

Meistens amputieren die Ärzte noch im Lazarett an der Front. Erst dann werden die Verletzten mit Miltärbussen und Krankenzügen vom Osten in den Westen der Ukraine gefahren. Lwiw ist als größte Stadt das Zentrum für Rehabilitationen.

Noch am Tag seiner Rettung wird Nazar Viktorovskyi in ein Lazarett nach Bachmut gebracht. Die Stadt liegt etwa eine Autostunde vom Angriffsort entfernt.

Erst im OP-Saal erfährt er vom Arzt, dass sie ihm beide Beine amputieren müssen. „Ich habe das akzeptiert”, sagt Nazar Viktorovskyi.

„Ein paar Stunden vorher wusste ich nicht, wie lange ich noch leben werde, da waren mir die Beine egal.” Er habe dann an seine Frau gedacht und wie er sie trösten könne.

Nach der Operation blickt Nazar Viktorovskyi an sich herunter: Fäden spannen die Haut dort, wo die Ärzte die Schnitte gesetzt haben. Von seinen Beinen sind nur noch die Oberschenkel übrig.

Zwei Wochen später wird er ins Reha-Zentrum nach Lwiw gebracht. Insgesamt operieren die Ärzte Nazar Viktorovskyi sieben Mal. An die Schnittwunde setzen sie ihm ein kleines Gerät ein, das eine Infektion verhindern soll. Dann kürzen sie am rechten Beine den Oberschenkelknochen um fünf Zentimeter.

Als er ein paar Tage später das erste Mal seine Frau am Krankenbett sieht, tröstet er sie mit Humor. Wenn man keine Füße mehr hat, sagt er, können sie auch nicht frieren. Sie lachen.

Dann verheilen langsam seine Wunden, er bekommt Massagen, die das verhärtete Gewebe lockern. Die Ärzte schießen dafür Ultraschallwellen durch seine Oberschenkel. Im Fitnessstudio zittern seine Beine bei den ersten Übungen.

Mit der Zeit baut er genügend Muskeln auf, dass die Mediziner eine Form für die Prothese anfertigen können. Einmal besucht Nazar Viktorovskyi den Psychologen des Zentrums, doch dieser stellt fest, dass er es ohne seine Hilfe schafft.

Das größte Krankenhaus Lwiw ist ein Plattenbau mit hunderten Fenstern, hinter denen verwundete und amputierte Veterane warten. Das 1000-Betten-Krankenhaus.

Im Juni 2022 besucht Karl Lauterbach Lwiw. Danach beschließt das Gesundheitsministerium, die Ukraine mit Prothesen-Lieferungen zu unterstützen. Es beauftragte die Malteser vor Ort, eine Prothesenwerkstatt in einem Container einzurichten und die deutsche Firma Ottobock, Teile für 200 Prothesen zu liefern.

Drei Monate später, an einem Montag im September, wird die Container-Werkstatt vor dem Krankenhaus eröffnet. Der Gesundheitsminister der Ukraine, Viktor Ljaschko, fährt extra dafür am Morgen von Kiew nach Lwiw.

Ärzte, die Klinikleitung und die Presse stehen Spalier, als der Minister den Container betritt. Graues Jackett, er wirkt ernst und gefasst. Er lässt sich zeigen, wie der Arzt die Plastikhülse für die Prothese abschleift und lobt die schnelle Hilfe aus Deutschland. Er sagt: „Ein Tsunami von Menschen, die medizinische Hilfe brauchen, erwartet uns.”

Hilfe aus dem Ausland sei wichtig, aber in Zukunft müsse sein Land selbst für die Veteranen Prothesen herstellen. Denn: Prothesen können nicht auf Distanz angefertigt werden. Ärzte müssen Abdrücke des Beins nehmen, Testhülsen produzieren und sie immer wieder abschleifen. Das geht nur am Patienten.

In der Ukraine mangelt es an allem, was dafür wichtig ist: Werkstätten mit Schleifmaschinen, Rohradapter und Fußpassteile. An der Aufklärung der Patienten. Eigentlich soll der soziale Dienst im Krankenhaus jedem Patienten einen Katalog bringen, der sie informiert, welche Prothesen und Hersteller es gibt. „Es fehlen 2500 Fachkräfte”, sagt Gesundheitsminister Ljaschko bei der Pressekonferenz.

Um das zu lösen, müssten sich Medizinstudierende in den nächsten Jahren auf Amputation, Orthopädie und Krankengymnastik spezialisieren.

Außerdem ist die Bürokratie zu langsam: Es dauert Monate bis das Militär den Bescheid ausstellt, der bezeugt, dass ein Soldat verwundet wurde.

Der Gesundheitsminister besichtigt die Krankenzimmer. Im Fitnessraum bleibt er neben einem Veteran ohne Bein stehen, der an zwei Stangen übt, zu laufen. Ihm fehlt das Gleichgewicht, er schwankt. Der Gesundheitsminister reicht ihm die Hand. Ob er vom sozialen Dienst über die Angebote der Prothesierung aufgeklärt worden sei, fragt er. Kopfschütteln. Nur vom Krankenhauspersonal. Er warte immer noch auf seine Armee-Bescheinigung. Alles dauere so lange, er fühle sich schlecht informiert. Der Assistent des Gesundheitsministers nimmt die Daten des Veterans auf. Um seinen Fall kümmert der Minister sich persönlich.

Vier Wochen nach dem Besuch im Reha-Zentrum Galichina zeigt Nazar Viktorovskyi seine Beinprothesen im Video-Telefonat. Sie sind von Ottobock, vor zwei Wochen hat er sie bekommen. Erst waren sie ein Fremdkörper für ihn, gehorchten nicht dem Rest seines Körpers. Nazar Viktorovskyi spürt beim Laufen nicht, wenn sich das eine Prothesen-Knie beugt. Deshalb fehlt das Signal fürs andere Bein, nach vorne zu gehen. Er zögert, bevor er den nächsten Schritt macht. Die ersten zehn Schritte, sagt Nazar Viktorovskyi, seien so anstrengend gewesen, dass er schwitzte.

Er nimmt es hin. „Die Hauptsache war, dass ich wieder auf Augenhöhe mit den anderen war”, sagt er. Er schätzt, dass er Anfang nächsten Jahres aus dem Reha-Zentrum entlassen wird.

Während er noch auf die Prothesen wartet, bringen ihn Mitarbeiter der Klinik zu einem Reiterhof am Rande der Stadt.

Einige Kilometer von der Reha-Klinik Galichina entfernt, zwischen kleinen Dörfern und Pferdekoppeln, liegt ein Reitstall aus weißem Stein. Jeden Sonntag findet dort Reittherapie für Veteranen statt.

Mitte September ist Nazar Viktorovskyi zum ersten Mal bei der Reittherapie.

Als er auf das Pferd zurollt, bleiben die Räder seines Rollstuhl im Einstreu stecken. Therapeutin Alexandra und der Orthopäde der Klinik Galichina greifen ihm unter die Arme und heben Nazar aufs Pferd. Als Alexandra mit der Zunge schnalzt und sich das Pferd in Bewegung setzt, klammert sich Nazar an die Griffe des Gurts. Er sagt: „Es ist ein tolles Gefühl, die Angst ist komplett verflogen.” In seiner Kindheit sei er manchmal geritten.

Er lehnt sich vor auf den Pferdehals und zurück auf den Hintern.

Der Orthopäde Volodymyr Hlovatscyi steht an der Bande und beobachtet ihn. Seit 8 Jahren arbeitet er in der Klinik. Früher kamen vor allem Patienten mit Rückenerkrankungen und Arthrose, manchmal auch Amputierte. Vielleicht 15 bis 20 im Jahr. Im September 2022 sind 150 amputierte Soldaten in Galicina.

Hlovatscyi sagt, am Besten sollten Amputierte vier Mal während ihres Aufenthalts zum Reiten kommen.

Hlovatscyi sagt, am Besten sollten Amputierte vier Mal während ihres Aufenthalts zum Reiten kommen.

Denn bei vielen Amputierten wird die Wirbelsäule krumm und die Hüfte verschiebt sich, wenn das Bein nicht mehr da ist, das sie waagerecht hielt.

Fehlt nur der Teil unterhalb des Unterschenkels, vergrößert sich die Belastung für den Rücken um 30 Prozent. Fehlt das ganze Bein, sind es 100 Prozent.

„Reiten wirkt wie passives Gehen”, sagt Hlovatscyi. Die Hüfte bewegt sich wieder gerade, so wird verhindert, dass sich die Wirbelsäule verformt. Die Reittherapie ist eins der vielen orthopädischen Angebote der Klinik.

Aber das Reiten hilft den Veteranen auch psychologisch: Die meisten seien davor noch nie geritten. Dass sie das können, ohne Beine, gebe ihnen Kraft. Ein paar Kämpfer aus dem Asow-Stahlwerk, die dort von der russischen Armee gefangen gehalten wurden, kamen nach ihrer Entlassung aus der Gefangenschaft zum Reiten. Die Therapie mit den Pferden beruhigte sie.

Nach zwei Runden wird Nazar mutiger, löst die Hände und kreist die Arme, streckt sie zur Reitstalldecke.

Für einen Moment wirkt Nazar Viktorovskyi unbeschwert.

Kristina Ratsch &<br>Niklas Bessenbach Kristina Ratsch &<br>Niklas Bessenbach

Kristina Ratsch &
Niklas Bessenbach

kristina-ratsch@web.de
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