
Kurz bevor die Särge eintreffen, huscht eine Frau im weißen Kleid um die Hausecke. Die braunen Haare sind hochgesteckt, ein langer Schleier weht hinter ihr her. Eine knallgelbe Straßenbahn – Typ Tatra – quietscht Richtung Rathaus, vor einem Café sitzt ein Mann auf einem Schemel und kurbelt an seiner Drehleier. Seine Sammeldose ist gelb und blau.
Der Krieg scheint weit weg an diesem Samstag Ende September in Lwiw. Die Frontlinie hunderte Kilometer entfernt, der Himmel strahlend blau, die Restaurants in der Altstadt rappelvoll. Der Westen der Ukraine gilt als sicher. Der letzte Luftalarm ist Tage her, und er trieb nur wenige in die Luftschutzkeller.
Der Tod erreicht die Stadt trotzdem.
Auf weißen Tafeln vor dem Rathaus: ihre Gesichter, ihre Namen, ihre Geschichte. Juriy, Mykola, Artem, 46, 39, 36 Jahre alt. Blumen liegen darunter, Kerzen brennen.
Wie viele Menschen seit Kriegsbeginn starben, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen. Präsident Selenskyj sprach vor einigen Wochen von 60 bis 100 Toten pro Tag. Überprüfen lässt sich diese Zahl nicht. Sicher ist: Fast täglich ziehen Trauerzüge durch Lwiw. Von der Jesuitenkirche St. Peter und Paul zu den Soldatengräbern auf dem Friedhof Lycharkiv. Seit diesem Sommer gedenkt die Stadt ihren Toten öffentlich.
Allein an diesem Samstag sind es fünf.
So groß Ehrfurcht und Respekt vor den Gefallenen des Krieges sind, so groß ist das Stigma, wenn es um die Menschen geht, die mit den Toten arbeiten. Totengräber, Leichenpräparator, Bestatter. Sie werden auf eigenen Wunsch nur beim Vornamen genannt.
Als die Soldaten den ersten Sarg auf ihre Schultern heben, sinken die Menschen in der Kirche auf die Knie. Die Militärkapelle übertönt das Schluchzen. Sie schieben den Sarg in ein Auto, legen Holzkreuz und Blumenkränze dazu. Sieben Busse bringen die Menschen aus der Kirche zum Friedhof.
Vor dem Rathaus stoppt der Konvoi für einen Moment. Soldaten stehen aufgereiht, davor ein Vertreter des Bürgermeistes. Ein Trompeter spielt eine Melodie in Moll. Fußgänger bleiben stehen, manche sinken auf die Knie, falten die Hände. Eine Frau bekreuzigt sich.
Ab und zu unterbricht ein Schluchzen die Stille, als die Totengräber die Särge wenig später auf dem Friedhof in die Erde gleiten lassen. Die Priester sprechen ihren Segen, schütten Weihwasser auf die Särge, eine Junge weint. Seine Mutter legt ihm ihre Hände auf die zitternden Schultern. Dann schippen die Totengräber Erde ins Grab. Minutenlang schaufeln sie, schweigend.
Drei junge Frauen, Töchter des gefallenen Soldaten, halten sich schluchzend an den Händen.
Am schwersten zu ertragen sei es, wenn kleine Kinder weinen, sagt Stefan ein paar Minuten später. Seine großen, rauen Hände umfassen den Spaten, tiefe Falten haben sich auf seine Stirn gelegt. Einer der Toten war mit seinem Sohn in einer Klasse, sagt er. Stefan hat ihn am Nachnamen erkannt. Es hätte sein Sohn sein können.
Stefan ist Friedhofsgärtner, 60 Jahre alt. Früher gab es hier ein bis zwei Beerdigungen pro Monat. Jetzt sind sie unterbesetzt, muss auch er als Totengräber ran. Morgens um acht beginnt die Arbeit außerhalb der Friedhofsmauern, mit einem Bagger heben er und seine Kollegen die Gräber aus. Am Vorabend erfahren sie, wie viele.
Stefan schlüpft durch ein Loch im Zaun, zurück auf den historischen Friedhof. Zwei neue Gräber sind schon ausgehoben.

Wenn Alte oder Kranke beerdigt werden, verstehe ich das, aber wenn Jüngere sterben, tut mir das in der Seele weh.
Stefan, Totengräber
Der Friedhof Lycharkiv ist der älteste in Lwiw, angelegt 1786. Berühmte Persönlichkeiten wie der ukrainische Dichter und Nationalheld Ivan Franko sind hier begraben oder die Schriftstellerin und Frauenrechtsaktivistin Maria Konopnicka. Soldatengräber erinnern an die Kriege der vergangenen Jahrhunderte, auch an den gegen Russland.
Seit dem Frühjahr wehen auf einer Wiese außerhalb der Friedhofsmauern blau-gelbe Fahnen im Wind, Blumen türmen sich, Plüschtiere, Kerzen. Der Friedhof ist voll, die neuen Gräber – längst über 100 – wurden auf dem sogenannten Marsfeld ausgehoben. Gedenkplatten und steinerne Kreuze erinnern an die Soldaten, die im Krieg gegen die nationalsozialistischen Besatzer gestorben sind. Auf den frischen Gräbern stehen Holzkreuze mit Fotos, Männer in Uniform. Manche wurden nicht einmal 23 Jahre alt.





Eine Straßenbahn rattert Richtung Innenstadt.
Verwaltet werden die Toten in Zimmer 205 des Rathauses. Hinter der Tür sitzt Serhiy, 28 Jahre alt, an einem runden Tisch mit vier Stühlen. Er ist Angestellter der Stadtverwaltung und Assistent des Bürgermeisters. Als die Zahl der Beerdigungen in die Höhe schoss, bekam er einen neuen Job. Serhiy ist jetzt so etwas wie ein Bestatter im Auftrag der Stadt.
Gemeinsam mit den Familien der Toten plant er die Trauerfeiern. Die Stadt übernimmt die Kosten, ein staatliches Unternehmen stellt Särge, Leichenauto, Blumen.
Während Serhiy spricht, leise und konzentriert, dreht er einen Bleistift zwischen den Fingern. Gefallene Soldaten nennt er Helden. An der Wand hängt eine Fahne, gelb und blau, darauf ein Panzer und die Zeile: Es gibt viele Feinde, aber wir sind mehr.
Bevor Serhiy ins Rathaus kam, hat er Geschichte studiert, in einer Schule Praktikum gemacht. Oberstufe. Vor einigen Wochen dann saß er mit der Familie eines ehemaligen Schülers an diesem Tisch. Serhiy stockt. Auch eine frühere Kollegin saß ihm schon gegenüber.



Fotos: Katrin Groth
Auf etwa halbem Weg zwischen Rathaus und Friedhof liegt die Leichenhalle von Lwiw, der Arbeitsplatz von Antonij. „Manchmal umarmen mich die Angehörigen, weil ich der letzte war, der den Toten gesehen hat“, sagt Antonij und bläst Zigarettenqualm in die warme Herbstluft. Er trägt einen grünen Kittel. Im Umgang mit dem Tod hat er vielleicht den härtesten Job.
Er sieht die Soldaten so, wie sie aus den Schützengräben kommen. Blutig, dreckig, teilweise verstümmelt.
Die Toten kommen in schwarzen Plastiksäcken. Den, den er gerade bekommen hat, trägt die Nummer 5156.
Der Geruch sei das Schlimmste, sagt Antonij. Er setzt sich in den Klamotten fest, in den Haaren, überall. „Die Menschen sehen ihren Angehörigen lebendig und dann wieder hübschgemacht im Sarg“, sagt er, „unsere Arbeit sieht niemand.“
Antonij zieht am Schnürsenkel des rechten Schuhs. Er zieht am Stiefel. Fest. Antonij greift nach der Schere, die an einem Stück Rohrende an der Wand hängt, schneidet das Hosenbein auf, dann den Schuh. Den zweiten braucht er nicht ausziehen. Der Fuß fehlt. „Man gewöhnt sich daran“, sagt Antonij. Nur die Tränen der Angehörigen, die seien schwer auszuhalten.
Die Toten, die dieser Tage zu Antonij kommen, sind jung. Er zieht sie aus, wäscht sie, näht, wo es möglich ist. Antonij fischt eine frische Uniform aus dem Pappkarton an der Wand. Grünes Shirt, grüne Unterhose, grüne Socken, darüber: Camouflage-Hose, Camouflage-Hemd mit ukrainischer Fahne, Stiefel. „Manchmal bekommen sie Makeup“, sagt Antonij. Wenn der Tote zur Beerdigung abgeholt wurde, streicht Antonij ihn von der Liste. Der Papierstapel könnte einen Ordner füllen.
An manchen Tagen sind es zehn Leichen, heute ist es nur eine. Wie viele schon vor ihm auf dem Tisch lagen? Er kann, er darf es nicht sagen. „Verboten“, sagt Antonij. Er scrollt auf seinem Handy, dann zeigt er zwei Fotos, Urkunden zweier Militärbrigaden, deren Soldaten er für die Beerdigung zurechtgemacht hat. Danke, steht drauf.

Ein paar hundert Meter die Straße entlang, treffen auf dem Friedhof die nächsten zwei Särge ein. Wieder spielt die Kapelle die Nationalhymne, wieder werden Fahnen überreicht, wieder feuern Soldaten drei Schüsse in den Himmel. Wieder werden die Toten in die Erde gelassen.
Gegenüber dem Friedhof, in einem grau verputzten Gebäude auf der anderen Straßenseite, kleben Pappstörche in den Fenstern. 314 Kinder kamen in der Geburtsklinik Nr. 1 seit Kriegsbeginn auf die Welt, eines davon im Luftschutzkeller.