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Krieg und Normalität 10 Reportagen aus Lwiw, Ukraine

Umzug einer Fabrik

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Weil der Krieg im Osten viele Produktionsstätten zerstörte, verlegten einige Unternehmen ihren Standort nach Westen. Eines von ihnen ist Poschmaschina, das landwirtschaftliche Anhänger produziert.

Von
Maximilian Münster

Fotos
Andreas Gregor

Feuchtigkeit und Kälte schleichen unter die Haut, in die Nase kriecht der Geruch von Eisen. Alte Rohre stapeln aufeinander, als habe jemand Panzersperren errichtet. In einer Ecke hat eine Stahlpresse ihren Dienst längst aufgegeben. Nun arbeitet sich der Rost an ihr ab. Das ist der neue Standort der Firma Poschmaschina. Vielleicht nicht optimal. Aber weit weg von den Geschossen der Russen.

Regen drückt sich durch einen Spalt in der Decke und hämmert auf den Boden. Geschäftsführer Alexander Oskalenko blickt zum Wasserfall hinauf. „Wir haben schon viele Löcher gestopft, einige sind noch übrig“, sagt er. Seine Fleecejacke hat er bis zum Kinn zugezogen.

Oskalenko leitet die Produktion von Getreideanhängern bei Poschmaschina. Bis April tat er das noch in Tschernihiw, im Osten der Ukraine. Doch dann rollten die russischen Panzer an und mit ihnen die Ungewissheit, was mit der Produktion geschieht, wenn der Feind das Gebiet besetzt. Im März 2022 packten die Arbeiter alle Maschinen zusammen und zogen in eine Industriebrache nach Lwiw im Westen des Landes.

Die Regierung hat ein massives Umsiedlungsprogramm gestartet, um Unternehmen in den umkämpften Gebieten zu retten. Sie half bei der Suche nach Büros und Produktionshallen in Regionen, wo russische Raketen seltener einschlagen: in Transkarpatien, an der Grenze zu Ungarn, in Czernowitz, nahe Rumänien. Oder eben in Lwiw, 80 Kilometer von Polen entfernt. 700 Unternehmen retteten sich bis September in Richtung Westen, mehr als 200 davon in die Region Lwiw. Staatsbahn und Post karrten Maschinen und Menschen nach Westen. Eine Karawane aus Stahl und Hoffnung.

Sägen kreischen und Schweißgeräte blitzen wie bei einem Gewitter. Oskalenko streift durch den Teil der alten Industriebrache, den das Unternehmen mittlerweile wiederbelebt hat. Prüfend begutachtet er eine Maschine, die wie ein Turm in die Höhe ragt. „Da drin säubern wir die Bleche vom Rost“. Arbeiter wuchten dann die braunen Rohre auf eine Straße aus Walzen, die durch den Turm führt. Die Maschine saugt sie auf der einen Seite ein, auf der anderen spuckt sie die Teile in sauberem Grau aus. Danach kann das Material weiterverarbeitet werden. Ein paar Meter weiter werkelt der Roboterarm eines Plasmaschneiders. Er schwebt über einer Metallplatte, in ruckhaften Bewegungen dreht und wendet er sich während ein greller Blitz das Material zerfrisst.

Stolz und wehmütig blickt Oskalenko auf die Maschinen. Die Firma hatte sie erst vor zwei Jahren angeschafft und die Produktion am alten Standort in Tschernihiw modernisiert. Die Wirtschaft in der Ukraine habe sich gut entwickelt, sagt Oskalenko. Das Land sei dabei gewesen, die Korruption zu überwinden. Nun drohe der russische Einmarsch alles zunichte zu machen.

Eigentlich baut Poschmaschina Feuerwehrautos. 1947 schraubte die Firma das erste Fahrzeug zusammen, ein 1,5 Tonner mit einer handbetriebenen Pumpe auf dem Fahrgestell. Erst seit sechs Jahren produziert die Firma auch Getreideanhänger. Sie machten bald schon fast die Hälfte der Produktion aus. Bis zum russischen Einmarsch.

Ende März hörte man die Einschläge immer näherkommen. Die russischen Truppen waren nur noch zehn Kilometer von der Fabrik entfernt. Oskalenko hörte von Plünderungen. Davon, dass Zivilisten erschossen werden. „Wir hatten Angst“, sagt Oskalenko.

Die Regierung hatte alle Unternehmen dazu aufgerufen, die Kriegsgebiete zu verlassen. Tschernihiw liegt nicht weit von der russischen und der belarussischen Grenze entfernt. Die Firmenleitung von Poschmaschina ist sich nicht sicher. Zumindest einen Teil ihrer Produktion, die der Getreideanhänger, will sie nach Westen verlagern. Die Produktion der Feuerwehrautos soll bleiben, vorerst,

Oskalenko suchte nach einem neuen Standort, fuhr nach Ternopil, auch nach Winnyzja. „Wir schauten uns in sechs, sieben Städten mögliche Standorte an“, sagt Oskalenko. Acht, neun Meter Höhe mussten sie für die Arbeit an den Hängern schon haben. Er überprüfte, ob die Böden das Gewicht der Maschinen tragen können. Ob überhaupt genug Grundfläche da ist. Die Größe eines Fußballfeldes wäre gut.

Schließlich findet er etwas Passendes in einer Industriebrache in Lwiw. Vor zehn Jahren war hier das letzte Mal an Fahrzeugen geschweißt worden.

Die Vorbesitzer hatten nicht einmal aufgeräumt. Nun quillt die Halle über vor Schrott, irgendwo rostet das Skelett eines Busses vor sich hin.

Trotzdem: es passt. Die Decken sind zehn Meter hoch, 8.000 Quadratmeter bieten genug Platz. Lwiw hat knapp 720.000 Einwohner. Dort sollten sich künftig genug Fachkräfte finden lassen. Am 10. April fällt die Entscheidung.

Der Umzug konnte beginnen „Im Krieg schmiedest du nicht lange Pläne“, sagt Oskalenko. 20 Arbeiter gehen als Vorhut nach Lwiw. Sie entsorgen den Schrott. Kräne, die ihre Ketten leblos von der Decke baumeln lassen, ersetzen sie durch neue. Presslufthammer ziehen Schneißen in den Boden, in die Schienen für neue Transportwagen verlegt werden. Es dröhnt nach Aufbruch.

Währenddessen beginnen Arbeiter am Standort in Tschernihiw zusammenzupacken. „Das Gute ist: wir sind Ingenieure. Maschinen demontieren können wir“, sagt Oskalenko. Plasmaschneider, Schweißroboter, Schlagscheren: Sie schrauben alle Maschinen auseinander und verladen sie in Kisten. Große Teile, die nicht reinpassten, beschlagen sie zum Schutz mit Holz. Lkws transportieren alles zum Bahngleis. Mehr als 30 Wagons belädt Poschmaschina. Den Transport, rund 50 000 Euro, zahlt die Regierung.

Nach und nach fuhr die Staatsbahn die Ladung 700 Kilometer quer durchs Land, immer nach Westen, in Richtung Sicherheit. Am 20. Juli erreichte der letzte Waggon Lwiw.

30 Beschäftigte ziehen mit in den Westen. Die meisten bleiben aber in Tschernihiw, weil sie ihre Häuser und Familien nicht zurücklassen wollen. Das größte Problem aber sind die verwaisten Ackerflächen. Weil Russland die Seehäfen lange blockiert, ersticken die Landwirte in der Ukraine am Getreide. Welcher Landwirt braucht noch Anhänger, wenn er nicht weiß, ob er die Ernte losbekommt? 2021 verkaufte Poschmaschina noch 130 Anhänger, die Hälfte davon an Landwirte in der Ukraine, die andere in Länder wie Moldau, Rumänien und Bulgarien. 2022 sind es vielleicht halb so viele.

Im ganzen Land brach 2022 das Bruttoinlandsprodukt um ein Drittel ein. Produktionsanlagen sind zerstört oder laufen nicht, weil Russland die Stromversorgung angreift. Viele Fachkräfte sind an der Front und vielleicht nicht mehr am Leben. Weil Rohstoffe fehlen, schrauben sich die Preise für Nahrungsmittel und Energie hoch. Die Inflation könnte 2022 bei über 20 Prozent liegen.

Die Gebietsregierung von Lwiw empfängt Unternehmen wie Poschmaschina mit offenen Armen. Sie sind eine Chance zur Wiederbelebung verlassener Hallen und Industriegebäude aus Sowjetzeiten. Man schätzt, dass die umgesiedelten Firmen 2022 umgerechnet 277 Millionen Euro in der Region Lwiw erwirtschaften werden. Das würde fünf Prozent des Bruttoregionalprodukts der Region ausmachen.

Der Marktplatz der Stadt sieht aus wie im Reiseprospekt. Schmale bunte Häuser von Barock bis Klassizismus drängen sich aneinander. Italienische, österreichische und osteuropäische Baustile verschmelzen, als wollte die Stadt rufen, seht her, wir gehören zu Europa. An einem barocken Balkon wurde eine Puppe erhängt. Ihre Zunge hängt weit heraus, sie trägt die Färbung der russischen Nationalfarben. Zwei Gebäude daneben leuchtet ein Haus in grellem Gelb. Im 17. Jahrhundert betrieb ein italienischer Händler dort das erste Postamt der Stadt. Heute beherbergt es ein Investitionsbüro, das Unternehmen bei der Ansiedlung in Lwiw und der Region berät.

Darin sitzt Taras Yeleiko, ein ehemaliger Investmentbanker, der nun Kapuzenpulli trägt, sein Gesicht verbirgt sich hinter einem Vollbart. Seine Augen sind wach und erwartungsvoll, als habe er schon das Ende des Krieges in Sicht. Auf dem Glastisch vor sich hat er eine Infomappe ausgebreitet. Kommt ein Unternehmer vorbei, zieht er ein Grundstück, eine Betriebshalle oder Büroflächen heraus. 200 bebaute oder unbebaute Flächen haben Stadt und Umland anzubieten. Dazu vermittelt Yeleiko Fördergelder. Bis zu 250.000 Hrywna, umgerechnet knapp 7000 Euro, stellt die Regierung bereit, je nach Zahl der Mitarbeiter. Es gibt mehrere solcher Förderprogramme. Das Problem sei nur: „Unternehmer wissen nicht, dass es sie gibt“, sagt Yeleiko. Darum wurde das Büro gegründet. Yeleiko serviert Geld und Flächen auf dem Silbertablett. Die Unternehmen müssen nur kommen, das ist die Botschaft.

25 Jahre lang vergab Yeleiko als Investmentbanker Kredite. Dann kam 2014 die Revolution. Hunderttausende schwenkten auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew die Fahnen für eine Zukunft in Europa und Yeleiko will mit seinem Wissen über Zahlen und Unternehmen dem Land bei der Privatisierung helfen. Im Vorstand des staatlichen Vermögensfonds versteigert er Unternehmen und spült Geld in die Staatskassen.

Im Oktober 2021 sitzt er in Anzug und roter Krawatte auf einem Podium der Zeitung Kyiv Post und spricht über die Versteigerung von Seehäfen.

„Unsere Wirtschaft ist noch die eines postsowjetischen Landes,“ sagt Yeleiko. „Ich kenne keine wohlhabende Industrienation, wo das noch so ist“, sagt er. „Ich glaube nicht, dass wir Fabriken wie Asow-Stahl nochmal aufmachen werden“. Die Ukraine müsse sich künftig mehr auf weiterverarbeitendes Gewerbe konzentrieren.

„Es macht keinen Sinn, hier Mais anzubauen, der dann in Spanien verarbeitet wird und als fertige Chips wieder zu uns kommt“

Taras Yeleiko

Er stellt eine Kerze vor sich auf, sie wurde aus Kaffeesatz gefertigt. Ein junges Unternehmen aus Lwiw hat sie gegossen. Auf solche Firmen hat es Yeleiko abgesehen. Wäre die Ukraine in der EU, würden Fördergelder für solche Unternehmen sprudeln, daher erwartet Yeleiko sehnlichst die Mitgliedschaft. „Wir sind zwar nur Kandidat, aber ich glaube, wir werden bald dazugehören.“

Der Krieg bringt den Umbau schneller, als es dem Land lieb ist. Als ob Russland die Wirtschaftsstruktur mit der Brechstange einreißt und die Ukraine sie aus den Trümmern nach ihren Vorstellungen, nach westlichem Vorbild, wieder aufbaut. In Lwiw zeigen sich die Umrisse. Matratzenhersteller, Möbelproduzenten, IT-Unternehmen, Lebensmittelindustrie, „die Branchen sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können“, sagt Yeleiko.

Ein schmerzhaftes Symptom des gewaltsamen Umbaus ist die Massenarbeitslosigkeit. Wegen des Kriegs stehen Metallarbeiter jetzt schon ohne Job da.

Andrij Schabanytzja ist einer von ihnen. In Lwiw montiert er gerade sein Leben neu. Er hat einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma gefunden, die für Poschmaschina Bleche zuschneidet. Gerade macht er eine Pause. Er legt einen Stapel Bauzeichnungen zur Seite, zückt sein Smartphone und scrollt im Fotoordner ein paar Monate zurück. Dann rinnen ihm Tränen über die Wangen. Ein Bild zeigt das Haus in Mariupol, in dem er wohnte. Russische Raketen haben es zerstört. Von seiner Wohnung aus konnte er sehen, wie Soldaten das Asow-Stahlwerk beschossen. In besseren Zeiten kümmerte er sich dort um den Abtransport der Schlacke, die bei der Stahlproduktion anfällt. „Meine Großeltern haben das Werk mit aufgebaut“, sagt er. Seine Mutter verlor beim Angriff ihr Leben. „Ich weiß bis jetzt nicht wo und wie sie begraben ist.“

Ein anderes Bild zeigt Schabanytzja während einer Feuerpause. Er ist abgemagert, ein rötlicher Bart umschließt seinen Mund. Zwei Monate harrte er im Keller des Hauses aus, schlief bei vier Grad auf einem alten Sofa. Wenn er durstig war, destillierte er das Salzwasser aus den Brunnen der Hafenstadt. „In einer Nacht habe ich 38 Explosionen gezählt“, erinnert er. Im Mai fand er einen Fahrer, der ihn wegbrachte aus der Hölle, die mal seine Heimat war.

Wie Schabanytzja verloren Zehntausende durch die russischen Angriffe ihre Jobs, schätzungsweise rund 40 Prozent aller Beschäftigten im Land. Die Unternehmen in Lwiw fangen sie auf. Deshalb kann sich die Region vor Arbeitssuchenden kaum retten. Laut Arbeitsamt kommen hier zwei Arbeitnehmer auf einen freien Job. So gut ist die Zahl nirgendwo in der Ukraine. Allein Poschmaschina hat in Lwiw mittlerweile mehr als 100 Menschen eingestellt, die Hälfte davon sind Vertriebene.

Die Produktion bei Poschmaschina in Lwiw läuft so gut, wie sie in Anbetracht der Umstände laufen kann. Vor kurzem haben die Arbeiter einen Getreideanhänger fertig zusammengeschraubt und lackiert. Er blitzt in frischem Grün, das an John Deere erinnert. Stolz zeigt ihn Oskalenko vor. Platz für 30.000 Liter, so viel passt in einen kleinen Swimming Pool. Die massiven Reifen rollen auch auf unebenem Untergrund. Landwirte können damit auf das Feld fahren. Der Mähdrescher speit das Korn direkt in die Ladefläche, ohne, dass er anhalten muss. Das macht die Ernte 30 Prozent schneller. Demnächst soll sich ein bulgarischer Landwirt darüber freuen. In die Ukraine wird Poschmaschine dieses Jahr wohl kaum noch verkaufen.

Am Hallenende liegen frische Platten, Stangen und Vierkantrohre so dicht beieinander, Oskalenko muss sich seinen Weg hindurch suchen. „Wir haben noch zu wenig Platz", sagt Oskalenko. Poschmaschina hat die Hälfte der Halle mittlerweile freigeräumt, die andere ist noch voller Schrott. Irgendwann, in besseren Zeiten, würde er die Produktion ausweiten und den anderen Teil der Fläche nutzen. Vielleicht würde der Rest von Poschmaschina auch nach Lwiw kommen. Aber im Moment könne man nicht planen. „Man weiß nie, was der nächste Tag bringt.“

Maximilian Münster

Maximilian Münster

maximilian.muenster@gmx.net