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Krieg und Normalität 10 Reportagen aus Lwiw, Ukraine

Verlierer auf vier Beinen

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Tiere zählen zu den ersten Opfern des Krieges. In Lwiw und Umgebung kümmern sich Menschen um die verängstigten und verletzten Katzen, Hunde, Bären und Vögel.

Von
Andrew Müller

Fotos
Andreas Gregor

Viktor Shewinskyis Garten am Rande von Lwiw sieht aus wie das Gelände eines Avantgarde-Festivals: hier eine Hängematte mit einem Mobilé aus Austernschalen darüber, dort ein Schaukasten mit Vogelfedern, und da drüben eine selbst gebaute Hütte mit einem großen, in den Fußboden eingelassenen Aquarium. Das Areal ist nicht groß, doch einmal betreten wirkt es endlos. In jeder freien Ecke befinden sich kleine oder größere Volieren.

Seit in der Ukraine Krieg herrscht, leben bei Viktor Shewinskyi die buntesten Vögel: Papageien. Menschen, die aus dem Osten des Landes flohen, brachten sie zu ihm: Halsbandsittiche, einen Graupapagei, Salomonenkakadus. Viele konnten ihre Haustiere auf der Flucht in die EU nicht mitnehmen, wollten sie aber auch nicht einfach zurücklassen – und hatten von Shewinskyi gehört.

Shewinskyi ist Zoologe, er arbeitet an der Nationalen Akademie der Wissenschaften und am Naturkundemuseum von Lwiw. Er liebt Vögel. Wenn er über die Bewohner seiner Volieren redet, strahlen seine Augen vor Begeisterung. Er kann sogar pfeifen wie ein Vogel. Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner eigentlichen Arbeit – Forschung sowie die Gestaltung des Museums – um verletzte einheimische Tiere, die er findet oder Leute ihm bringen: Elstern, Mäusebussarde, Störche.

Oft haben sie gebrochene Flügel, wenn sie ankommen, können aber nach einer Weile in Shewinskyis Obhut wieder fliegen. Er lässt sie dann frei und genießt den Moment, als würde auch ein Teil von ihm losfliegen. 286 Vögel sind momentan bei ihm, sagt Shewinskyi, und etwa 60 kommen ab und zu weiterhin vorbeigeflogen zu Besuch.

Seit dem Krieg wird er noch viel häufiger angerufen als ohnehin schon. Ein Soldat, erzählt er, versorge an der Front nebenbei einen verwundeten Kaiseradler – und lässt sich dabei von Shewinskyi beraten. Außerdem, erzählt er, fand man in der verlassenen Villa einer bekannten Sängerin mehrere als Haustiere gehaltene Eulen, die versorgt werden mussten. Auch der Kyiver Zoo schickte ihm im Frühjahr Papageien und tropische Tauben, die dort nicht mehr sicher waren. Einige sind inzwischen wieder zurück, manche weiter nach Polen gereist. Und die anderen bleiben bei ihm.

Wenn Bomben einschlagen, leiden auch Tiere. Wilde Tiere können zwar fliehen, aber was ist mit jenen, die vollkommen vom Menschen abhängen?

Im Krieg, sagt Shewinskyi, hätten Tiere im Grunde genau die gleichen Probleme wie Menschen.

Als Russland Anfang des Jahres die Ukraine angriff, gingen auch Bilder um die Welt, wie flüchtende Ukrainer:innen ihre Haustiere mitnahmen. An Bahnhöfen und an der Grenze zu Polen standen hunderte Menschen mit Katzenboxen oder kleinen Hunden im Arm. Aber nicht alle konnten ihre Tiere mitnehmen, zumal die Ausfuhrkontrollen inzwischen strikter sind.

Die meisten Tierschützer:innen arbeiten unter äußerst prekären Bedingungen. Vor allem im Bereich Hunde und Katzen sind fast alle von ihnen Frauen. Olha Horbatsch zum Beispiel verbringt fast den ganzen Tag in einem improvisierten Katzenheim im Plattenbauviertel Sychiw.

Es ist eine ganz normale Wohnung im Erdgeschoss, durch den Hausflur wabert der intensive Geruch von Katzenfutter. Hier leben 90 Katzen, es miaut aus allen Ecken. Auf dem Tisch, dem Sofa, sogar auf dem Fernseher: überall Katzen, in allen Größen und Farben.

Viele kommen aus den Kriegsgebieten – Mykolaiv, Nikopol, Butscha – und haben Schlimmes erlebt. Eine schwarze Katze kann nicht gehen, sie wurde angeschossen. Viele laufen frei in der Wohnung herum und vertragen sich meistens; andere sitzen in Käfigen, bis sie gegen Tollwut oder andere Krankheiten geimpft sind. Wenn sie Glück haben, werden sie an ein neues Zuhause vermittelt, nach Polen oder auch Deutschland.

Hunde lassen sich nicht auf diese Weise in einer Wohnung zusammenpferchen. Deswegen befindet sich das Tierheim, in dem Natalia Kuznjezowa arbeitet, etwas außerhalb der Stadt. Auf dem Gelände leben rund 400 Hunde, vor dem Krieg waren es 280 – und schon da war es überfüllt.

Die meisten Hunde sind mittelgroß bis groß – vielleicht weil sich die kleinen bei einer Flucht besser mitnehmen lassen. Die Finanzierung durch die Stadt reicht nicht aus, der Fehlbetrag wird mehr schlecht als recht über Spenden abgedeckt, erzählt Kuznjezowa. Eigentlich ist sie Unternehmerin, handelt mit Auto-Ersatzteilen, würde aber am liebsten nur hier arbeiten.

Bringen die freiwilligen Helfer, meist junge Frauen, neue Hunde ins Gehege, drehen seine Bewohner durch. Noch bevor das Tor öffnet, bellen Dutzende Hunde, und als eine Frau mit einem Tier im Arm eintritt, steigert sich das zu einem furchtbaren Getöse.

Sie rotten sich zusammen, knurren, fletschen die Zähne und kommen immer näher. So möchte man nicht empfangen werden.

Damit sich die Hunde untereinander nicht gefährlich werden, dürfen sie nur abwechselnd in größeren Gruppen frei herumlaufen. Aus vielen der Verschläge dringt Jaulen. Hund Michail, sein Besitzer ist an der Front, sieht aus wie eine Mischung aus Hyäne und Wolf. In seinem Käfig läuft er unruhig immer im Kreis, springt am Zaun hoch, wedelt aber noch mit dem Schwanz. Ein stolzer Schäferhund aus Nikopol, seine Besitzer hatten ihn zurücklassen müssen, ist krank, hat Verdauungsprobleme und stinkt erbärmlich.

Noch etwas weiter außerhalb von Lwiw, etwa 30 Kilometer westlich der Stadt, leben Bären in menschlicher Obhut. Die Rettungsstation bei Domazhyr wird betrieben und finanziert von der österreichischen NGO „Four Paws“. Es ist ein 20 Hektar großes Gelände mit Wald, großen Metallzäunen auf dem insgesamt 31 Braunbären leben. Das Bärengehege gab es schon vor dem Krieg, aber jetzt kamen neue Bewohner hinzu.

Die meisten Bären sind in Käfigen aufgewachsen, bevor sie hier einzogen: als Attraktion von Hotelrestaurants oder in sogenannten Hunting Stations, wo sie mit verbundenen Augen benutzt werden, um Hunde für die Tierjagd zu trainieren. In manchen Zirkussen wurde ihnen mit Säure das Augenlicht sogar dauerhaft genommen, damit sie nicht von den Scheinwerfern geblendet und somit abgelenkt werden. Was übrig bleibt, sind traumatisierte und verstörte Tiere. Besonders traurig ist der Anblick ehemaliger Tanzbären, die jetzt einsam und verloren – ohne Publikum – die sinnlosen Bewegungen wiederholen, die ihnen andressiert wurden.

Die Bären könnten in freier Wildbahn gar nicht überleben. Teilweise kennen sie nicht einmal den Geruch von Erde oder das Gefühl von frischem Wind im Fell, wenn sie hier ankommen. Bei manchen dauert es ein Jahr, bis sie sich trauen, mal ein bisschen in den Bäumen zu klettern, erzählt Olya Fedoriv, Mitarbeiterin der Einrichtung.

Olya Fedoriv

Ein Bär namens Bachmut, er ist benannt nach der gleichnamigen Stadt im Donezk-Gebiet, kommt noch nicht einmal aus seiner Hütte heraus. Fedoriv kann nur ahnen, was ihm widerfahren ist: Man fand ihn an ein Haus gekettet, dessen Dach weg gebombt worden war. Das Tier war vollkommen verängstigt und ausgehungert, und jetzt vertraut es nur ganz wenigen Pflegern. Mit zunächst kleinen Portionen gekochten Futters päppelten sie den Bären auf, um seinen Magen nicht zu überfordern. Langsam werden die Portionen größer, aber es wird noch lange dauern, bis Bachmut sich einigermaßen erholt hat.

Zu Beginn des Krieges lebten noch sieben andere Bären hier, sie waren unter Beschuss aus der Region Kiev hertransportiert worden. Drei davon wohnen jetzt in Deutschland, z.B. im Tierpark Worbis, die anderen konnten wieder zurück. Alle hoffen, dass solche Evakuierungs-Aktionen nicht mehr nötig sein werden.

An manchen Tagen kommen Gruppen geflüchteter Kinder, um die Bären zu sehen. Auch zu Viktor Shewinskyi, den Vogelretter, kommen Kinder aus der Ostukraine.. Das Grün seines Gartens und die Nähe zur Natur, tue ihnen gut, sagt er.

„Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen“

„Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen“

Viktor Shewinskyi

Andrew Müller

Andrew Müller

andrewmueller@posteo.de