An diesem Samstag, den 24.September um halb elf Uhr morgens, parkt vor der jüdischen Kultur-und Wohlfahrtsstelle in Kotljarevshkoho Straße in Lwiw ein Mercedes-Benz Bus. Menschen im Gänsemarsch schleppen Säcke mit bunten Kostümen und einen Synthesizer aus dem Gebäude und laden sie in den Bus. Dabei sollten fromme Jüdinnen und Juden am Schabbat eigentlich gar nicht Auto fahren.
17 Personen finden schließlich auf ihre Plätze. Jung und alt, dick und dünn, mehr Frauen als Männer, ausgelassen und eingepackt in dicke Anoraks. Ein Brummen, der Fahrer lässt den Motor anspringen. „Wir fahren auf Tournee“, schreit jemand. Sie sind Tänzerinnen, Sängerinnen und eine Sozialarbeiterin des Ensembles Hessed Arieh aus Lwiw.
Morgen Abend beginnt Rosch Hashana. Für die jüdische Gemeinde von Lwiw ist es das erste Neujahrsfest im Krieg. Die zehn Tage zwischen Rosch Haschana und dem Versöhnungstag Jom Kippur sind die wichtigsten im jüdischen Kalender. Sie sind eine Zeit der Selbsterkenntnis, der Prüfung und Hoffnung.
Vor dem Holocaust galt Lwiw als kulturelle, religiöse und zionistische Ideenwerkstatt jüdischen Lebens – ein Drittel seiner Einwohner war jüdisch. Von etwa 100 000 überlebten etwa 3 000. In den 1990er Jahren emigrierten viele nach Israel, Deutschland und die USA. Andere waren Mischehen eingegangen und galten gemäß der Halacha, der rabbinischen Gesetzgebung, „nur“ als Vaterjuden. Vor einigen Jahren schloss die letzte jüdische Schule in der Stadt. Durch den Krieg wächst die Gemeinde nun wieder täglich.
Jemand im Bus spielt Opernmusik von Verdi auf seinem Handy, „Rigoletto“.
Sie fahren auf einer Schnellstraße aus der Stadt hinaus. Eine Frau fragt den Mann auf dem Beifahrersitz: „Serhij, bist du im wehrfähigen Alter?“ In den letzten Wochen, so habe sie gehört verteile das Militär Einberufungsbescheide an Checkpoints außerhalb der Stadt.
Im Bus reden alle durcheinander. Nicht alle lieben Opernmusik.
„Was ist das für ein Rumgeheule, tu Kopfhörer rein, Mischa!“
„Habt ihr eigentlich „Unorthodox“ gesehen?“
„In Deutschland lernen unsere Leute nicht Deutsch, wozu auch, sie kriegen auch so 400 Euro jeden Monat!“
„Vergesst nicht, dass die Eröffnungsrede heute auf Ukrainisch sein soll und nicht auf Russisch!“
„Lasst uns lieber über Sex reden, dafür brauchen wir keine Sprache!“
Sie krümmen sich vor Lachen.
Die „Tournee“ ist ein Tagesausflug in den Kurort Truskavez südwestlich von Lwiw. Seit Anfang März leben dort in einem hässlichen sowjetischen Betonklotz jüdische Geflüchtete.
Als der Krieg begann, mieteten Unternehmen ganze Sanatorien, um ihre Mitarbeiter aus dem Osten zu evakuieren. So auch die Joint Distribution Committe (JDC), die älteste jüdische Hilfsorganisation der Welt. Sie quartierte dort Familien und alte und kranke Menschen ein. Gerade sind es 119, die im Hotel Vesna – Frühling – untergebracht sind. Truskavez soll für alle nur eine Zwischenstation sein, bis sie wieder in ihre Heimatstädte zurück können oder eine Wohnung in Lwiw finden.
Dank seiner Heilquellen war Truskavez in der ganzen Sowjetunion als Urlaubsort bekannt, so wie Baden-Baden in Deutschland oder Karlsbad in Tschechien. Auch jetzt leben im Hotel neben Geflüchteten einige Heilwasser-Touristen.

In Zimmer 704 im siebten Stock des Hotels wohnen Lidia Leonidowna, 85 und ihr Sohn Serhij 54. Sie sitzt im Rollstuhl, er leidet an Kinderlähmung. Zusammen haben Mutter und Sohn die Kriegstage in Mariupol überlebt. Seit wenigen Wochen leben sie als Geflüchtete im Hotel.
Zwei Einzelbetten, zwei knallrote Nachttischlampen, ein Fernseher und ein Kühlschrank. Die beiden verlassen ihr Zimmer außer zum Essen nur dann, wenn die Pflegerin für zwei Stunden kommt und sie zusammen vor dem Hoteleingang am Rollator in kleinen Schritten laufen üben.
„Wir warten“, antwortet Lidia Leonidowna auf die Frage, wie es ihr geht. Sie sitzt nah am Fenster, hinter ihr stapeln sich Windelpackungen, neben ihr auf dem Fensterbrett liegt eine Packung Zigaretten. Serhij kauert auf dem Bett und starrt auf sein Handy. Er schweigt. Einmal hebt er seinen Kopf und sagt grimmig: „Ich will zurück nach Mariupol. Dort bin ich geboren.“
Sie warten auf ihre Ausreisedokumente nach Israel. Die Juden, hofft Lidia Leonidowna, lassen die eigenen Leute nicht im Stich. Aber weil gerade jüdische Feiertage sind, verzögert sich im Konsulat alles. Dass sie jüdisch sind, hat ihnen vielleicht sogar das Leben gerettet. Wenn sie stirbt, soll sich in Israel jemand um Serhij kümmern.
Als die Russen Anfang März begannen, Wohnviertel in Mariupol zu beschießen, brach in den ersten Tagen ihr Balkon weg, die Fenster zersplitterten, Bilder fielen von den Wänden. Lidia Leonidowna lag im Bett und zitterte.
Egal wie viele Decken sie über sich breitete, ihr Körper schmerzte vor Kälte.
Sie erlaubte Serhij nicht, das Haus zu verlassen. Im April klopfte ein unbekannter junger Mann an ihre Tür. Er sagte, er käme aus der Synagoge und helfe behinderte Menschen zu evakuieren. Sie lehnte ab. Wo sollten sie in ihrem Zustand hin, sie im Rollstuhl, Serhii mit seiner Behinderung?
Es gab keinen Strom, kein Essen, kein Wasser. Aber eine entfernte Verwandte kochte alle paar Tage auf einem Feuer vor dem Haus Suppe oder Brei. Ihr Mann brachte Wasser. Erst als ihnen die Medikamente gegen Serhiis epileptische Anfälle ausgingen und die Apotheken geschlossen blieben, entschied sie sich zur Flucht. Der Fremde aus der Synagoge trug Lidia Leonidowna zu dem Minibus und legte sie auf den Boden. Als sie die Stadt verließen, schossen die Russen auf sie, Mariupol war zu Teilen schon besetzt. Am Checkpoint wollte man sie nicht durchlassen. Sie nahmen den Umweg über die Dörfer.
Um drei Uhr nachmittags kamen sie in der Küstenstadt Berdjansk an. Sie hatten sich über zwei Monate nicht gewaschen und nichts Warmes gegessen. Als jemand Lidia Leonidowna einen Teller mit heißem Borschtsch reichte, zitterten ihre Hände. Am gleichen Tag kam eine Frau und duschte sie mit warmem Wasser. Es war der dritte Mai. Sie wird diesen Tag nie vergessen.
Im Keller des Hotels sitzen kurze Zeit später ein paar Dutzend Pensionäre und Familien mit Kindern auf roten Plüschsesseln. Das Ensemble singt das hebräische Neujahrslied Bashana Habaa auf Jiddisch.
Ir wet seyn, ihr wet seyn,
Wasba jahr wird gescheyn,
Wider Scholem wet seyn ouf der Welt.
Zu Lidia Leonidowna und Serhii wird später jemand eine kleine Plastiktüte hochschicken: darin Challah, Hefezopf aus der jüdischen Tradition und ein Apfel mit Honig. Süß soll das neue Jahr werden.
Nach dem Konzert machen die Sängerinnen und Tänzerinnen Selfies vor dem Hotel und schleppen die bunten Säcke mit ihren Kostümen wieder ins Auto. Kurz bevor der Minibus Lwiw erreicht, klingelt das Telefon der Sozialarbeiterin. Ein alter jüdischer Mann, ein Geflüchteter aus dem Osten, weint ins Telefon. Er wolle sich beim Ensemble bedanken, sagt er. Dafür, dass er sich nach langer Zeit wieder jüdisch gefühlt hat.

Zu Besuch beim Rabbi
Rabbiner Mendel Gotlib spürt „jüdische Seelen“ in der Stadt auf, sagt er und zwinkert. Menschen, die jüdisch sind, aber die Verbindung zum Judentum oder zur Gemeinde längst verloren haben. Zwei Tage vor Rosch Haschana sitzt er in seinem winzigen Büro im Gemeindezentrum Chabad. Ständig kommen Menschen vorbei, um Medikamente oder Lebensmittel abzuholen. Es sind vor allem jüdische Familien, aber nicht nur. Mendel begrüßt sie mit „Shalom Shalom!“ Dann lädt er sie zu einem kurzen persönlichen Gespräch unter vier Augen.
Die Menschen mögen Mendel. Er ist jung, er ist nahbar, er hört zu, den Kindern schenkt er Spielzeug. Wenn er spricht, baut er auf Jiddisch lustige Ausdrücke ein, wie „A jiddische Kop“, um jemandem zu seinen klugen Gedanken zu beglückwünschen.
Seine Muttersprache ist Hebräisch, aber Mendel spricht Russisch und lernt Ukrainisch. Das Rrrr kann er noch nicht richtig rollen. „Nur in Israel gibt es einen Unterschied zwischen säkular und orthodox“, sagt er. „Hier sind wir alle eins, wir sind Juden!“
Auf einem Stuhl steht eine riesige Aufnahme von Rabbiner Menachem Mendel Schneerson, dem ehemaligen Führer der ultraorthodoxen Chabad-Bewegung, zu der auch Mendel gehört und den er verehrt.
Mendel und seine Frau Maschi kamen im August letzten Jahres aus Israel als „Schlichim“, sogenannte Gesandte, nach Lwiw, um ihr Leben der Gemeindearbeit zu widmen. Im Dezember kam Musja, ihr Baby auf die Welt. Kurz darauf begann der Krieg. Jeden Tag, von morgens bis abends, riefen ihn in den ersten Kriegswochen verzweifelte Menschen an.
Für Mendel was es das erste Mal in seinem Leben, dass er am Schabbat ans Telefon ging.
Mendel hat Angst um seine Eltern. Sein Vater ist auch Rabbiner. Jeden zweiten Tag telefoniert er mit ihnen. Sie leben in Mykolajiv, einer Stadt, die seit Kriegsbeginn fast täglich unter Beschuss steht. Als Mykolajiv von der Wasserversorgung abgeschnitten wurde, schickte er ihnen einen ganzen Bus mit Wassertanks aus Lwiw.
Seine Eltern kamen Mitte der 90er Jahre nach Mykolajiv im Süden der Ukraine, um dort die Gemeinde aufzubauen. Die Stadt war eine „jüdische Wüste“ sagt er, die postsowjetischen Gemeinden hungrig nach jüdischem Leben. Mendel wuchs dort auf, bis er als Teenager zur Rabbinerausbildung nach Israel, in die USA und Deutschland ging. Etwas anderes, als Rabbiner zu werden, kam ihm nie in den Sinn.
An mehrere Orten und von unterschiedlichen Gruppen wird in Lwiw Rosch Haschana gefeiert.
In der großen Synagoge gibt es einen Gottesdienst des Zentralrabbiners von Lwiw. In der Kultur- und Wohlfahrtsstelle Hessed Arieh haben sie die Feier vorgezogen und schon ein paar Tage früher gefeiert.
Aber richtige Feierlaune will nirgends so richtig aufkommen. Man tunkt Äpfel in Honig, wünscht sich ein gutes neues Jahr, spricht von Hoffnung, vom Sieg gegen das Böse. Viele haben Söhne, Töchter oder Brüder, die an der Front kämpfen.
Gar nicht zum Feiern zumute ist Sascha Somisch. Sascha verlässt kaum noch das Haus seit Ausbruch von Covid und erst recht seit Ausbruch des Krieges.
Sascha ist Musikerin, hat 2007 mit anderen zusammen die Klezmer-Band „Varnitshkes“ gegründet und schwärmt von früheren Zeiten. Velikalepno – großartig, sei es gewesen damals, volshebno – zauberhaft und tschjudesno – wunderbar.
Saschas Großvater väterlicherseits war Jude, nach dem Religionsgesetz gilt sie als Nicht-Jüdin. Lange Zeit schmerzte sie das, sie wollte jüdisch sein. Bis ein Professor in Jerusalem zu ihr sagte: „Besser eine gute Goyka als eine schlechte Jüdin“. Goyka ist der gängige Name für Nichtjuden. Seine Weisheit beruhigte sie.
Bis 2014 war „Varnitshkes“ jedes Jahr in Sankt Petersburg auf dem Festival der Toleranz aufgetreten. „Never again“, schworen sie. Es waren dieselben Kollegen, von denen sich jetzt alle bis auf wenige von ihr abgewandt haben. Heute heißt die Band nicht mehr „Varnitshkes“, sondern „Shtrudl“. Die Zahl ihrer Mitgliederzahl ist geschrumpft, zwei kämpfen als Freiwillige an der Front.
Ein ukrainischen Volksliedes Oy u luzi chervona kalina hat sie gemeinsam mit „Shtrudl“ über Videochat kurz nach Kriegsbeginn auf Jiddisch umgedichtet, Pink Floyd hatte dasselbe Lied im April zu „Hey hey rise up“ verarbeitet. Auf Youtube hat „Shtrudls“ Video mehr als 70 000 Klicks.
Sascha selbst mag seit dem 24. Februar nicht mehr singen. Kurz bevor wir uns verabschieden, singt sie dann doch ganz leise. Ihr Lied erzählt von den Sapozhkelekh, den Stiefelchen. Es ist ein jiddisches Liebeslied.
Farkoyfn di sapozhkelekh
Un forn oyf di droyzhkelekh
Abi mit dirn eynem tsu zayn
Oy ikh on dir un du on mir
Vi a kloymke on a tir
Ketsele feygele mayn
Ich würde meine Stiefel verkaufen
Und mit einer Kutsche zu dir fahren
Nur um bei dir zu sein.
Denn du und ich und ich und du
Wir sind wie eine Türe ohne Schloss,
Mein Kätzchen, mein Vögelchen.